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20.08.2019

Bluttest für das Risiko zu sterben?

Das kalendarische Alter allein sagt meist wenig über den Gesundheitszustand älterer Menschen aus. Für Entscheidungen im höheren Alter wäre es oft hilfreich, Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand und die Anfälligkeit für Krankheiten ziehen zu können [I, II]. Dabei könnte auch eine zuverlässige Vorhersage des längerfristigen, biologischen Sterberisikos aus Blutproben helfen. Eine niederländische Arbeitsgruppe mit deutscher Beteiligung aus dem Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln stellt nun in einer Studie erstmals 14 Biomarker im Blut vor, die helfen sollen, statistische Aussagen über die Sterblichkeit von Männern und Frauen in den kommenden fünf und zehn Jahren treffen zu können.

Mit Hilfe einer „gut standardisierten“ Metabolomik-Plattform hatten die Forscher die Restlebenszeit in einer Gruppe von 44.168 Individuen untersucht (Alter zu Studienbeginn 18-109), von denen 5.512 bei der Nachsorge verstorben waren. Ein metabolisches Profil aus insgesamt 14 Biomarkern – unter denen sich vor allem Aminosäuren, Lipidwerte und Entzündungsparameter finden – schneidet nach Angaben der Forschenden in der Vorhersage besser ab als bisher verfügbar Marker. Bisher erlaubten Alterungsindikatoren, die auf klinisch beobachtbaren Daten (zum Beispiel Systolischer Blutdruck, „gutes“ Cholesterin) oder äußeren Merkmalen (zum Beispiel Body-Mass-Index, Rauchen) basierten, in der Regel robustere Vorhersagen über die Sterblichkeitsrisiken. Die entdeckten Assoziationen blieben bei Männern und Frauen und auch über verschiedene Altersgruppen hinweg ähnlich.

Die Autoren schlagen vor, das Set der Metaboliten-Marker im Blut könne zukünftig in der klinischen Routine eingesetzt werden – bei Therapieentscheidungen oder als Surrogat-Marker für Mortalität im Rahmen von klinischen Studien. Solche Marker als Entscheidungsgrundlage für oder gegen aggressive Therapien zu haben, könnte später einmal in der Krebsmedizin oder im Übergang von kurativer zu palliativer Versorgung Hochbetagter Anwendung finden – im Gespräch mit den Patientinnen und Patienten. Die Autoren betonen allerdings, dass es für einen Einsatz der Metaboliten-Marker in der Klinik noch zu früh sei, der kostengünstige Test müsse erst in weiteren Studien validiert und die biologische Rolle der 14 Marker aufgeklärt werden. Ihre Ergebnisse haben die Autoren im Fachjournal „Nature Communications“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).

Übersicht

     

  • Dr. Annette Rogge, Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees,, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Kommissarische Leiterin des Lehrstuhls Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel
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  • Prof. Dr. Florian Kronenberg, Leiter der Abteilung Genetische Epidemiologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
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Statements

Dr. Annette Rogge

Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Kommissarische Leiterin des Lehrstuhls Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel

„Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Autoren für die Anwendung des vorgestellten Risiko-Scores weder für Forschungsfragen noch für den klinischen Einsatz aktuell ‚Marktreife‘ bescheinigen. Sie stellen eine klinische Anwendung nach weiterer Forschung jedoch potenziell mit folgendem Beispiel unkommentiert in Aussicht: Für die Therapieentscheidung, ob eine ältere Person zu ‚fragil‘ für eine invasive Operation sei, könnte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Risikogruppe für ein krankheitsunabhängiges Versterben (Mortalität) innerhalb der nächsten fünf oder gar zehn Jahre eine Bedeutung zugebilligt werden.“

„Die ethische Diskussion zum möglichen Einfluss von Vorhersagen über bestimmte Krankheits- (Morbiditäts-) Wahrscheinlichkeiten auf klinische Entscheidungsfindung ist komplex [1, 2]. Sie ist dem Bereich der Systemmedizin zuzuordnen und wird in Fachkreisen bereits seit Jahren geführt.“

„Die gemeinsame individuelle Therapieentscheidung im Arzt-Patientenverhältnis ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig: zum Beispiel vom evidenzbasierten Wissen über die aktuelle Erkrankung, ihrer Prognose und ihren Behandlungsmöglichkeiten, anderen Erkrankungen des Patienten, dem potenziellen Nutzen und Risiko eines Eingriffs und möglichen Alternativen sowie immer und nicht zuletzt vom Wunsch des Patienten.“

„Das individuelle Outcome des Patienten sicher prognostizieren zu können, wäre für die Entscheidung sehr hilfreich. Aber die beschriebene Methode liefert den beiden nur eine Wahrscheinlichkeit, mit der dieser Patient zu einer Gruppe von Menschen gehört, die ein bestimmtes Risiko in sich tragen, krankheitsunabhängig innerhalb der nächsten fünf oder zehn Jahre zu versterben.“

„Arzt und Patient würden also nur eine sehr abstrakte zusätzliche Information über einen auch noch relativ langen Vorhersage-Zeitraum erhalten, die es in der individuellen Situation aber richtig zu bewerten gilt. Für den weitaus größten Teil von Therapieentscheidungen sollte man diese Information sicherlich als irrelevant einschätzen.“

„Auch der im Artikel erwähnte potenzielle Nutzen durch Etablierung von Präventionsmaßnahmen erscheint bei krankheitsunabhängiger Mortalität sehr abstrakt und von konkreten Empfehlungen für den einzelnen Patienten weit entfernt.“

„Konkret sind hingegen schon jetzt die Herausforderungen und Gefahren, die eine derartige Todesrisikovorhersage mit sich bringen würde. Es stellen sich beispielsweise die Fragen: Wie verhindern wir, dass statistische Risikoeinschätzungen einen zu hohen Stellenwert in der Therapiezielfindung einnehmen? Wie verhindern wir, dass die Zugehörigkeit zu einer statistisch analysierten Hochrisikogruppe von Biomarkern zu einer Diskriminierung von Probanden oder Patienten führt? Wer teilt dieses Risiko und seine Bedeutung dem einzelnen Patienten mit? Wie begleiten wir seinen Umgang mit diesem Wissen? Wie sichern wir das Recht von Patienten auf Nichtwissen?“

„Die Nutzung des hier vorgestellten Biomarker-basierten Mortalitätsrisikos für Therapieentscheidungen einzelner Patienten ist somit sowohl heute, als auch als Zukunftsvision äußerst kritisch zu bewerten.“

„Das unkommentierte potenzielle Anwendungsbeispiel für eine Therapieentscheidung eines älteren Menschen erregt Aufmerksamkeit, lässt aber das notwendige Verantwortungsbewusstsein für einen möglichen zukünftigen Transfer dieser Grundlagenforschung in die klinische Praxis vermissen.“

Prof. Dr. Florian Kronenberg

Leiter der Abteilung Genetische Epidemiologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich

„Diese Studie basiert auf einer sehr großen Fallzahl, in der die Metaboliten aller Studienteilnehmer im selben Labor gemessen worden sind. Eine Gruppe von 14 Metaboliten schnitt bei der Vorhersage des Risikos zu versterben besser ab als konventionelle Risikofaktoren. Die Studie ist insofern bemerkenswert, weil sie einen weiteren Schritt hin zu einer personalisierten Medizin darstellt. Würde man zu diesen Daten neben Metaboliten noch weitere Datenebenen wie genetische Daten oder andere Omics-Daten (zum Beispiel Hochdurchsatzverfahren für die Analyse der DNA-Transkription oder Proteinexpression in Zellen; Anm. d. Red.) hinzufügen sowie nicht nur konventionelle Risikofaktoren, dann würde die Vorhersagekraft wahrscheinlich weiter ansteigen. Die Ergebnisse sind wissenschaftlich sehr spannend, aber werden von manchen vielleicht auch als beängstigend empfunden.“

„Die vorgestellten Biomarker sind durchaus biologisch plausibel und wurden in Einzelstudien zum Teil bereits verwendet, aber eben nicht in dieser Kombination.“

„Warum die Vorhersagekraft bei älteren Kohorten abnimmt, kann viele Gründe haben. Zu bedenken ist zum Beispiel, dass in Kohortenstudien (Dabei werden zwei oder mehrere Gruppen von Teilnehmern, die verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sind, über einen längeren Zeitraum beobachtet, um festzustellen, wie oft eine bestimmte Erkrankung auftritt; Anm. d. Red.) vor allem ältere Menschen mit bereits bestehenden oder mehreren Erkrankungen gleichzeitig keinen Eingang mehr finden. Deshalb möglicherweise ein relevanter Anteil an Menschen aus der beobachteten Varianz rausfällt.“

„Neben den erwähnten konventionellen Risikofaktoren werden zwar aktuell von vielen Forschergruppen erkrankungsspezifisch dutzende Biomarker gemessen, aber häufig lediglich in einem rein akademischen Setting. Es braucht in der Regel viele Jahre und zahlreiche Evaluierungsschritte, bis es ein Biomarker wirklich in die klinische Anwendung schafft.“

„Wenn man nun damit beginnt, eine große Anzahl von Biomarkern zu bestimmen und vielleicht auch noch mit weiteren Datenebenen kombiniert, dann müssen gleichzeitig auch die Algorithmen entwickelt und erprobt werden, die es dem Kliniker ermöglichen, das Vorhersagepotenzial dieser Daten zu nutzen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg und es bedarf neben der Standardisierung der Messverfahren über viele Labormethoden und Labore hinweg auch entsprechender Unterstützung aus der Informatik.“

„Akademisch betrachtet eröffnen die Resultate hochinteressante Anwendungsmöglichkeiten, diese müssen nun allerdings kontrolliert und ethisch begleitet und vertieft erforscht werden. Es steht allerdings zu befürchten, dass kommerzielle Interessen für manche Firmen eine Versuchung darstellen werden, die dann den betroffenen Patienten und dessen Arzt mit den Ergebnissen solcher Tests alleine lassen werden. Solche Fehlentwicklungen haben wir beim Einsatz genetischer Daten durchaus bereits erlebt.“

„Prinzipiell ist jeder Schritt hin zu einer fundierten Therapieentscheidung sehr zu begrüßen. Aber vor einer klinischen Anwendung ist es nun unbedingt erforderlich, dass erst einmal weitere Studien kontrolliert durchgeführt werden, die die Vor- und Nachteile der Vorhersage überprüfen.“

„Klar ist aber auch, je besser die Vorhersagekraft in Zukunft sein wird, umso mehr nähern wir uns einer personalisierten Medizin. Es macht möglicherweise zunächst Angst, wenn ein Algorithmus über Therapien mitentscheidet. Doch schon heute fallen in der Medizin ständig Entscheidungen, meist auf der Basis von relativ wenigen Daten. In Zukunft wäre die Vorhersage aufgrund tausender Daten wohl präziser, wenn auch niemals hundertprozentig treffsicher. Wichtig ist zudem, auf jeden Fall vor Entscheidungen auch die Sichtweise und Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Florian Kronenberg: „Keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Deelen J et al. (2019): A metabolic profile of all-cause mortality risk identified in an observational study of 44,168 individuals. Nature Communications; 10: 3346. DOI: 10.1038/s41467-019-11311-9.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Fischer T et al. (2016): Clinical decision-making and secondary findings in systems medicine. Medical Ethics; 17: 32. DOI: 10.1186/s12910-016-0113-5.

[2] Deutscher Ethikrat (2012): Personalisierte Medizin. Der Patient als Nutznießer oder Opfer? Tagungsdokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Ganna A et al. (2015): 5 year mortality predictors in 498 103 UK Biobank participants: a prospective population-based study. Lancet; 386(9993): 533-540. DOI: 10.1016/S0140-6736(15)60175-1.

[II] Liu Z et al. (2018): A new aging measure captures morbidity and mortality risk across diverse subpopulations from NHANES IV: A cohort study. PLoS Med. 15(12): e1002718. DOI: 10.1371/journal.pmed.1002718.