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22.02.2023

Auswirkung einer Geburtseinleitung auf spätere Schulleistung

     

  • Korrelationsstudie zeigt Zusammenhang von einer Geburtseinleitung und späteren schlechteren Schulleistungen
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  • die Häufigkeit an Geburtseinleitungen hat weltweit stark zugenommen
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  • Forschende hegen Zweifel am Effekt, dennoch sollten Geburtseinleitungen nicht unkritisch durchgeführt werden
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Die Einleitung einer Geburt ist im Vergleich zu spontan einsetzenden Wehen möglicherweise mit schlechteren schulischen Leistungen der Kinder im Alter von zwölf Jahren verbunden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam um Anita Ravelli vom Amsterdam University Medical Center (UMC), das in ihrer Assoziationsstudie die Daten von 226.684 Kindern auswertete. Diese erschienen im Journal „Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica“ (siehe Primärquelle).

In Deutschland werden über 20 Prozent aller Geburten eingeleitet. Dafür gibt es medizinische Gründe wie, zum Beispiel eine Erkrankung der Mutter mit Diabetes oder Bluthochdruck oder ein vorzeitiger Blasensprung. Allerdings werden am häufigsten Geburten eingeleitet, weil der errechnete Geburtstermin verstrichen ist.

Das Leitlinienprogramm der deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschaften für Gynäkologie und Geburtshilfe empfehlen eine Geburtseinleitung bei medizinischen Indikationen, sowie beim Überschreiten des errechneten Geburtstermins von zehn Tagen [I]. Die Schwangerschaftsdauer berechnet sich ab dem ersten Tag der letzten Periode auf 280 Tage, das entspricht 40 Wochen. Zwei Wochen nach Terminüberschreitung wird die Einleitung dringend empfohlen. Dieser Empfehlung liegen Studien zugrunde, die auf ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko für das Kind hinweisen, wenn der Geburtstermin überschritten ist [II] [III]. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Geburtseinleitung ab der 39. Schwangerschaftswoche sogar mit einer geringeren Rate von Kaiserschnitten einhergeht. Diese Erkenntnisse werden gestützt durch einen Cochrane Review, dessen Autorinnen und Autoren allerdings darauf hinweisen, dass bislang unklar ist, ob eine frühzeitige Einleitung sich auf die neurologische Entwicklung des Kindes auswirken könnte [IV].

Die Auswertung der niederländischen Forschenden soll hier einen Hinweis liefern. Sie verglichen die Schulleistungen im Alter von zwölf Jahren von Kindern, die nach einer Geburtseinleitung geboren wurden, mit denjenigen, die ohne Intervention geboren wurden. Die Kinder kamen zwischen 2003 bis 2008 und zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche in den Niederlanden auf die Welt. Für das Schwangerschaftsalter von 37 bis zu 41 Wochen war die Einleitung der Wehen mit schlechteren Schulleistungen verbunden als bei Nicht-Intervention, zudem erreichten weniger Kindern nach Einleitung einen höheren Bildungsweg in der weiterführenden Schule.

Inwiefern die Auswertung der schulischen Leistungen nun Aufschluss geben kann, ob sich eine Geburtseinleitung negativ auf die neurologische Entwicklung der Kinder auswirkt und inwiefern diese Erkenntnisse Einfluss auf die Empfehlung zur Geburtseinleitung haben könnte, schätzen Forschende in den nachstehenden Statements ein.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Sven Kehl, Oberarzt der Frauenklinik und Koordinator des Universitäts-Perinatalzentrums Franken, Universitätsklinikum Erlangen
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  • Prof. Dr. Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof
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  • Prof. Dr. Christiane Schwarz, Leiterin des Fachbereich Hebammenwissenschaft am Institut für Gesundheitswissenschaften, Universität zu Lübeck
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  • Dr. Maria Delius, Leitung Perinatalzentrum Campus Innenstadt, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München
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Statements

Prof. Dr. Sven Kehl

Oberarzt der Frauenklinik und Koordinator des Universitäts-Perinatalzentrums Franken, Universitätsklinikum Erlangen

„Mechanische und medikamentöse Verfahren zur Geburtseinleitung haben keinen Einfluss auf die neurologische Entwicklung des Kindes. Dies war auch nicht das Thema dieser Studie. Die Geburtseinleitung führt zu einem früheren Beginn der Geburt und somit zu einer vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft. Diese vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft kann dazu beitragen, dass die Gehirnentwicklung des Kindes beeinflusst wird. In der Vergangenheit gab es einige Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Schwangerschaftsdauer bei der Geburt und dem weiteren Verlauf im Kindes- und Erwachsenenalter gezeigt haben. Die Erkenntnisse sind also nicht neu.“

„Die Geburtseinleitung hat einen nachgewiesenen Nutzen, wenn Risiken vorliegen, die die Gesundheit von Mutter und/oder Kind gefährden können. Im Jahr 2018 wurde eine große multizentrische Studie veröffentlicht, die in den USA durchgeführt wurde [1]. In dieser Studie wurden Frauen ab 39 Schwangerschaftswochen ohne Risiken entweder eingeleitet oder es wurde abgewartet. Es konnte gezeigt werden, dass die Geburtseinleitung nicht mit einem schlechteren kurzfristigen Outcome verbunden war. Diese Studie hat zu einer weltweiten Diskussion und zur Veröffentlichung einer Vielzahl von Studien geführt. Das Thema der routinemäßigen Geburtseinleitung ab 39 Schwangerschaftswochen wurde in vielen Ländern als Option betrachtet [2]. In den deutschsprachigen Ländern stand dies jedoch nicht zur Debatte. In den USA hat es jedoch dazu geführt, dass nach der Veröffentlichung dieser Studie häufiger Frauen ab 39 Schwangerschaftswochen auch ohne medizinischen Grund eingeleitet wurden [3].“

„Die vorliegende Studie greift diese Thematik auf. Die Studie untersuchte, ob es einen Zusammenhang zwischen der Geburtseinleitung und der schulischen Leistung von Kindern im Alter von zwölf Jahren gibt. Dazu wurden insgesamt 226.684 Kinder aus den Niederlanden untersucht, die in den Jahren 2003 bis 2008 in der 37. bis 42. Schwangerschaftswoche geboren wurden und bei denen keine Komplikationen auftraten.“

„Die Ergebnisse zeigten, dass bei jeder Schwangerschaftswoche bis zur 41. Woche die Geburtseinleitung im Vergleich zur spontanen Geburt zu einer verringerten schulischen Leistung der Kinder führte. Dabei wurde festgestellt, dass bei jeder induzierten Geburt die schulischen Leistungen im Vergleich zu spontan geborenen Kindern um etwa 0,05 Standardabweichungen niedriger waren. Darüber hinaus erreichten nach einer Geburtseinleitung weniger Kinder eine höhere Schulbildung. Die Forscher betonten jedoch, dass die Ergebnisse nicht bedeuten, dass alle Kinder, die nach einer Geburtseinleitung geboren wurden, schlechtere schulische Leistungen erbringen werden. Es handelt sich lediglich um einen statistischen Zusammenhang, der nicht auf jeden Einzelfall übertragbar ist. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass die Geburtseinleitung bei unkomplizierten Schwangerschaften, bei denen keine medizinischen Gründe vorliegen, vermieden werden sollte. In solchen Fällen sollte die natürliche Geburt abgewartet werden.“

„Diese Studie hat wie jede Studie ihre Stärken und Schwächen. Zu den Stärken gehören die Komplettabdeckung der Geburtsaufzeichnungen in den Niederlanden, eine große Anzahl von untersuchten Daten, die mit den Kindern verknüpft sind, ein hoher Stichprobenumfang und die Berücksichtigung von Störfaktoren, wie dem Bildungsniveau der Mutter. Es ist aber keine Studie, aus der eine Kausalität abgeleitet werden kann. Verbleibende Störungen könnten vorhanden sein, da nicht alle potenziellen Störfaktoren bekannt sind, wie zum Beispiel familiärer Status, Bildungsgrad des Vaters, das Rauchen eines Elternteils oder Body-Mass-Index der Mutter. Nur ein kleiner Teil der potenziellen Indikationen für eine Einleitung von Geburten war bekannt. Einige Schulen in den Niederlanden verwenden andere Bewertungssysteme oder geben keine individuellen Schülerleistungen an, was zu Einschränkungen in der Interpretation der Ergebnisse führen kann. Zudem wurden Kinder mit speziellen Bildungsbedürfnissen, die nicht den kognitiven oder Verhaltensanforderungen für den Eintritt oder die Absolvierung einer Regelschule entsprechen, nicht berücksichtigt, was möglicherweise zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen könnte.“

„Ungeachtet dessen ist diese Studie beachtenswert. Der Tenor der Studie lautet: Frühzeitige Beendigung der Schwangerschaft mittels Geburtseinleitung ohne medizinischen Grund kann zu Problemen im weiteren Leben des Kindes führen. Diese Probleme beziehen sich im vorliegenden Fall auf die schulische Entwicklung des Kindes. In Anbetracht des Trends der vergangenen Jahre einer häufigeren Geburtseinleitung ab 39 Schwangerschaftswochen – auch ohne Vorliegen von Risiken – sind die Ergebnisse dieser Studie ein schlagkräftiges Argument gegen dieses Vorgehen.“

„Auf das Vorgehen in deutschen Geburtskliniken hat diese Studie nur einen geringen Einfluss, da die routinemäßige Geburtseinleitung ab 39 Schwangerschaftswochen in den deutschsprachigen Ländern stets kritisch gesehen wurde. Es gilt weiterhin, dass bei Vorliegen von Risiken eine Risiko-Nutzen-Analyse durchgeführt und die Beendigung der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der mütterlichen und/oder kindlichen Risiken in Betracht gezogen werden muss. Wenn keine medizinischen Gründe für eine vorzeitige Beendigung vorliegen, sollten die Frauen auch über die möglichen Langzeitfolgen und nicht nur über die kurzfristigen Risiken aufgeklärt werden.“

Prof. Dr. Michael Abou-Dakn

Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof

„Die Autor:innen stellen eine epidemiologische Studie aus den Niederlanden vor. In dieser wurden Kinder im Alter von zwölf Jahren nach ihren schulischen Leistungen verglichen und mit den Geburtendaten aus den Jahren 2003 bis 2008 kombiniert. Nach entsprechender statistischer Bereinigung erfolgte der Vergleich von Geburten nach unkomplizierten Schwangerschaften, die entweder spontan zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren hatten oder eingeleitet wurden. Die Autor:innen schlussfolgern, dass die Einleitung einen Effekt auf die Schulleistungen der Kinder habe, weil sie einen entsprechenden Unterschied von etwa zehn Prozent nachweisen konnten.“

„Der besonders interessante Hintergrund der Arbeit ist die weltweite Zunahme von Einleitungen der Geburt in den vergangenen Jahrzehnten. Wie auch in der deutschen Leitlinie zur Geburtseinleitung beschrieben, sind einige Einleitungsindikationen in ihrer Evidenz weiter umstritten [4]. Eine Einleitung ohne medizinische Indikation wird in Deutschland eher abgelehnt. In den Studien der vergangenen Jahrzehnte wird aber eine Einleitung ab der 37. SSW durchaus kontrovers diskutiert [5] [6] [7] [8]. Zum Teil wegen der Befürchtung, dass es zum Ende der Schwangerschaft noch zu einem intrauterinen Fruchttod (Tod eines Fötus in der zweiten Schwangerschaftshälfte, nach dem 180. Tag (etwa 26. SSW), aber vor Geburtsbeginn; Anm. d. Red.) kommen könnte. Wobei die meisten Metanalysen hierbei vor allem einen Effekt nach der 41. SSW sehen und insbesondere bei Risikogruppen, wie zum Beispiel bei Schwangeren, die 40 Jahre oder älter sind [9].“

„In dieser Arbeit werden Einleitungen ohne wesentliche medizinische Indikation untersucht und konnten daher mit Geburten mit unkompliziertem Wehenbeginn verglichen werden. Bisherige Arbeiten haben sich mit den Aspekten der Bildung und Schulbildung im Rahmen von frühen Frühgeborenen und dem geringen Geburtsgewicht auch bei Reifgeborenen auseinandersetzt und hier ebenfalls einen geringen Effekt aufzeigen können [10].“

„In dieser Studie fällt allerdings auf, dass die Bildung der Eltern und die soziale Schicht zwischen den Gruppen sehr unterschiedlich ist. So finden sich signifikant weniger gebildete Schwangere in der Gruppe, die sich ohne weitere Indikation einleiten lies, wie auch die Autor:innen kritisch anmerken.“

„Das diesem Faktor eine mögliche Rolle für die Ergebnisse zukommt, kann auch in der Multivariantanalyse nachvollzogen werden, die die Bildung der Mutter einbezieht. Hier sind die Ergebnisse kaum noch oder nicht mehr signifikant von dem Einfluss der Einleitung zu berechnen. Eventuell zeigt die Arbeit eher auf, dass Frauen beziehungsweise Paare, die bildungsferner sind, sich eher ohne wesentlichen medizinischen Grund einleiten lassen – auf welchen Einfluss dies auch beruhen mag.“

„Auch ist die Einleitungsmethode nicht beschrieben und ob zusätzlich nach der Einleitung weitere Medikationen notwendig waren. Es ist nicht nachvollziehbar, inwieweit mechanische Maßnahmen zur Zervixreifung (Prozess vor der Geburt, bei dem sich der Gebärmutterhals verkürzt und das Gewebe weicher wird; Anm. d. Red.) die Schulbildung oder den Schulerfolg beeinflussen sollten. Prostaglandine (Gewebshormone; Anm. d. Red.), die häufiger zur Reifung der Zervix eingesetzt werden, sind bisher auch nicht in diesem Zusammenhang diskutiert worden.“

„Die Gabe von Oxytozin wäre hierbei anders zu bewerten und diese werden zunehmend auch wegen möglicher neuronaler Effekte insbesondere in der Eröffnungsphase kritischer betrachtet [11] |12] [13].“

„Abschließend bleibt zusammenzufassen, dass der gefundene Effekt der Einleitung auf die schulische Leistung sehr fraglich ist. Jedoch erinnert die Studie daran, dass mögliche Nebenwirkungen einer Einleitung existieren können und alle Akteur:innen auf die Indikation einer Einleitung fokussieren sollten. Es ist zurecht zu kritisieren, dass auch in Deutschland über 20 Prozent der Geburten eingeleitet werden. Wunscheinleitungen oder solche ohne evidente Indikation sollten daher unterbleiben.“

Prof. Dr. Christiane Schwarz

Leiterin des Fachbereich Hebammenwissenschaft am Institut für Gesundheitswissenschaften, Universität zu Lübeck

„Zunächst muss festgehalten werden, dass die Frage nach den Langzeitfolgen von routinemäßigen Interventionen an gesunden Menschen generell systematisch erfolgen sollte – nicht nur bei der Geburtseinleitung. Dabei geht es darum, gewünschte und unerwünschte Effekte zu erfassen, um ausgewogene Entscheidungen für oder gegen eine Intervention im Licht von Kurzzeit- wie auch Langzeitkonsequenzen für alle Beteiligten treffen zu können. Hier sind nicht nur körperliche, sondern auch psychosoziale Folgen zu berücksichtigen. Die vorliegende Studie thematisiert diese Fragen.“

„Evidenz für die Kausalität von Ereignissen aus Beobachtungsstudien zu interpretieren, ist immer problematisch. Erstens handelt es sich um Sekundärdaten, deren Qualität nicht immer sicher nachvollziehbar ist und deren Fragestellung in einem völlig anderen Kontext erhoben wurde. Dann handelt es sich um einen sehr langen Zeitraum der Datenerhebung – die Definitionen für Ausschlusskriterien wie zum Beispiel Gestationsdiabetes wurden in diesem Zeitraum international mehrfach angepasst und die Diagnostik verändert. Ich konnte aus der Arbeit nicht erkennen, welche Medikamente in welcher Dosis zur Geburtseinleitung benutzt wurden und ob sich das Vorgehen über den Zeitraum verändert hat.“

„Wesentlich ist in dieser Fragestellung auch die Komplexität der Einflussfaktoren auf die schulische Performanz von Kindern. Zwar wurden in dieser Arbeit in hervorragender Weise übliche Variablen berechnet, wie etwa wie der sozioökonomische Status und das Bildungsniveau der Eltern. Andere mögliche Einflussfaktoren jedoch – zum Beispiel Selbstwirksamkeit und Resilienz von Schwangeren, die eine Geburtseinleitung abgelehnt haben, und der Einfluss einer solchen Haltung auf den Nachwuchs; Parität (Einzelkinder versus Geschwisterkinder), Beziehungsstatus, die Stilldauer, Geburtsmodus und andere –, können nicht berücksichtigt werden.“

„Dazu kommt, dass bei eingeleiteten Geburten häufiger weitere Medikamente unter der Geburt eingesetzt werden, die ebenfalls potenziell psychosozial wirksam sind, wie zum Beispiel das ‚Bindungshormon‘ Oxytocin. Um die Frage zu beantworten, (ob eine medikamentöse Einleitung der Geburt die neurologische Entwicklung der Kinder stören kann; Anm. d. Red.), müssten prospektive experimentelle randomisierte oder zumindest gematchte Beobachtungsstudien über lange Zeiträume durchgeführt werden.“

Auf die Frage, welchen Einfluss eine Einleitung auf die Gehirnentwicklung haben könnte:
„Ein Einfluss auf die Gehirnentwicklung des Fötus ist hypothetisch denkbar. Bekannt ist, dass ungeborene Kinder generell von einer physiologisch langen Tragzeit – im Vergleich zur Frühgeburt – kognitiv profitieren. Weniger gut erforscht ist die Frage, die in der vorliegenden Studie indirekt mit aufgeworfen wird: Könnte eine um womöglich wenige Tage künstlich verkürzte Schwangerschaftsdauer – und nicht die für die Einleitung verwendeten Medikamente – nachteilige Effekte auf das Kind haben? Falls ja, welche und bei welchen Kindern?“

„Ein direkter Einfluss der Medikamente, die zur Geburtseinleitung verwendet werden (Prostaglandine oder Oxytocin, das nicht plazentagängig ist) auf die fetale Gehirnentwicklung konnte bislang nicht nachgewiesen werden und ist meines Erachtens auch nicht plausibel. Eine biologische Plausibilität nachteiliger Effekte der routinemäßigen Geburtseinleitung innerhalb der physiologischen Schwangerschaftsdauer könnte eher in der unterschrittenen individuell-optimalen Reife einiger Ungeborener liegen. Bildlich gesprochen: wenn Sie Obst oder Gemüse knappreif ernten, werden Sie den Vorteil haben, dass keine Schäden durch Insekten oder Witterung mehr die Ernte verderben können – aber Sie schöpfen auch nicht das volle Aroma sonnengereifter Früchte aus (und einige werden definitiv unreif sein).“

Auf die Frage, welchen Beitrag die Studie zur Evaluation derzeit praktizierter Abläufe leistet:
„Die Studie trägt zum Wissensschatz bei diesem Thema bei und wirft wichtige Fragen auf. Ein striktes Monitoring und Evaluation der Effekte von routinemäßigen Interventionen – vor allem an gesunden Menschen ohne medizinische Indikation – sollte dringend eingeführt werden. Die wesentlichen Fragen sind hierbei: Wird der gewünschte Effekt erzielt (zum Beispiel weniger Totgeburten, weniger Kaiserschnitte)? Welche unerwünschten Effekte gibt es (zum Beispiel Geburtserleben, kindliche Entwicklung)? Zum Thema Geburtseinleitung gibt es dazu widersprüchliche und fehlende Evidenz.“

Dr. Maria Delius

Leitung Perinatalzentrum Campus Innenstadt, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München

„Es handelt sich um eine populationsbasierte retrospektive Kohortenstudie, die eine Assoziation und keine Kausalität des Untersuchungsgegenstands feststellt. Eine Besonderheit in den Niederlanden ist, dass viele Kinder zu Hause geboren werden. Der Einfluss dessen ist unklar, dieser Faktor wird in der Studie nicht erwähnt.“

„Der Outcome der Studie stellt lediglich eine Assoziation zwischen dem spontanen Geburtsbeginn bei reifen Kindern gegenüber der Einleitung und eines Schulleistungstests mit zwölf Jahren fest. Die Studie kann keine Kausalität belegen, auch wenn dies gerade im Abstract so klingt.“

„Eine Assoziation ist kein überraschendes Outcome, da hier die Kausalität nicht nachgewiesen wird und auch nicht unbedingt wahrscheinlich ist. Es werden zwar bestimmte Risiken ausgeschlossen, dennoch haben sicherlich viele Einleitungen eine medizinische Indikation gehabt (Confounding). Es ist anzunehmen, dass gegebenenfalls vor zwölf Jahren weniger ‚ohne Grund‘ eingeleitet wurde als heute, da damals die von den Autoren zitierten Studien noch nicht durchgeführt waren.“

„Es besteht keine wissenschaftliche Evidenz zwischen einem solchen Zusammenhang – das ist wichtig! Die Einleitung der Studie und die Diskussion hat nichts mit medikamentöser Einleitung zu tun, das wird hier nicht diskutiert. Es gibt auch mechanische Einleitungsmethoden. Thema ist die Einleitung an sich.“

„Die Studie darf nicht in Zusammenhang mit dem Medikament Misoprostol gebracht werden, da dies hier nicht das Thema ist und die Einleitungsmethoden nicht erwähnt werden.“

Auf die Frage, welchen Einfluss eine Einleitung auf die Gehirnentwicklung haben könnte:
„Die Einleitung selbst hat keinen Einfluss auf die Gehirnentwicklung. Die Autoren postulieren einen Vorteil einer längeren Schwangerschaftsdauer. Es ist mindestens genauso wahrscheinlich, dass Kinder, die eingeleitet wurden, einen Grund dafür hatten (medizinische Indikation und deshalb eine schlechtere kognitive Entwicklung aufweisen.“

„Das fetale Gehirn entwickelt sich im gesamten Schwangerschaftsverlauf und nach Geburt weiter. KinderärztInnen sprechen von der Plastizität des Gehirns, es bestehen viele Entwicklungsmöglichkeiten.“

Auf die Frage, inwiefern sich eine Einleitung der Geburt grundsätzlich negativ auf spätere Schulleistungen auswirken kann und welchen Einfluss Medikamente auf den Fötus haben können:
„Wie oben beschrieben, es geht hier nicht um Medikamente! Mechanische Einleitungsmethoden sind mindestens so verbreitet: Ballon, Eröffnung der Fruchtblase... Da in der Studie in der Einleitungsgruppe mehr Mehrgebärende waren, ist es sogar wahrscheinlich, dass mechanische Methoden nicht selten angewandt wurden.“

„Es ist essenziell, dass es den AutorInnen um die Schwangerschaftsdauer als potenzielle Ursache geht, nicht um Medikamente oder den Vorgang einer Einleitung.“

„Auch letzteres ist nicht kausal darstellbar, da die oben beschriebenen Confounder ebenso wahrscheinlich sind und die Ursachen, warum eingeleitet werden muss, ebenso mögliche Gründe sind, warum Kinder im Test schlechter abschneiden.“

Auf die Frage, welchen Beitrag die Studie zur Evaluation derzeit praktizierter Abläufe leistet:
„Diese Studie hat lediglich eine Assoziation gezeigt, daher sollte sie keinesfalls die Praktiken ändern. Die Methodik hier ist nicht gut genug, dies müsste in einer randomisierten Studie überprüft werden.“

„Wären die Daten so gut, wären sie in einem anderen Journal veröffentlich worden.“

„Die Studie hat viel Potenzial, mit den falschen Schlüssen rezipiert und verstanden zu werden und damit – wenn in der Öffentlichkeit unsachlich dargestellt und wahrgenommen – auch Schaden an Müttern und Kindern anzurichten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Christiane Schwarz: „Keine. Ich bin Mitautorin der AWMF-S2k-Leitlinie Geburtseinleitung [I].“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Burger RJ et al. (2023): Offspring school performance at age 12 after induction of labor vs non-intervention at term: A linked cohort study. Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica. DOI: 10.1111/aogs.14520.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Grobman WA et al. (2018): Labor Induction versus Expectant Management in Low-Risk Nulliparous Women. The New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa1800566.

[2] Migliorelli F et al. (2020): The ARRIVE Trial: Towards a universal recommendation of induction of labour at 39 weeks? European Journal of Obstetrics and Gynecology and Reproductive Biology. DOI: 10.1016/j.ejogrb.2019.10.034.

[3] Gilroy LC et al. (2022): Changes in obstetrical practices and pregnancy outcomes following the ARRIVE trial. American Journal of Obstetrics and Gynecology. DOI: 10.1016/j.ajog.2022.02.003.

[4] Kehl S et al. (2021): Induction of Labour. Guideline of the DGGG, OEGGG and SGGG (S2k, AWMF Registry No. 015-088, December 2020). Geburtshilfe Frauenheilkunde. DOI: 10.1055/a-1519-7713.

[5] Bond DM et al. (2017): Planned early birth versus expectant management for women with preterm prelabour rupture of membranes prior to 37 weeks' gestation for improving pregnancy outcome. Cochrane Database of Systematic Reviews. DOI: 10.1002/14651858.CD004735.pub4.

[6] Middleton P et al. (2018): Induction of labour for improving birth outcomes for women at or beyond term. Cochrane Database of Systematic Reviews. DOI: 10.1002/14651858.CD004945.pub4.

[7] Schwarz C et al. (2016): Temporal trends in fetal mortality at and beyond term and induction of labor in Germany 2005-2012: data from German routine perinatal monitoring. Archives of Gynecology and Obstetrics. DOI: 10.1007/s00404-015-3795-x.

[8] Rashidi M et al. (2022): Peripartum effects of synthetic oxytocin: The good, the bad, and the unknown. Neuroscience and Biobehavioral Reviews. DOI: 10.1016/j.neubiorev.2022.104859.

[9] Middleton P et al. (2020): Induction of labour at or beyond 37 weeks' gestation. Cochrane Database of Systematic Reviews. DOI: 10.1002/14651858.CD004945.pub5.

[10] Abel K et al (2017): Gestational age at birth and academic performance: population-based cohort study. International Journal of Epidemiology. DOI: 10.1093/ije/dyw284.

[11] Kunimi Y et al. (2022): Exogenous oxytocin used to induce labor has no long-term adverse effect on maternal-infant bonding: Findings from the Japan Environment and Children's Study. Journal of Affective Disorders. DOI: 10.1016/j.jad.2021.11.058.

[12] Mitre M et al (2018): Oxytocin Modulation of Neural Circuits. Current Topics in Behaviral Neuroscience. DOI: 10.1007/7854_2017_7.

[13] Abou-Dakn M et al. (2022): Vaginal Birth at Term - Part 1. Guideline of the DGGG, OEGGG and SGGG (S3-Level, AWMF Registry No. 015/083, December 2020). Geburtshilfe Frauenheilkunde. DOI: 10.1055/a-1904-6546.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] AWMF (01.12.2020): S2k-Leitlinie Geburtseinleitung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Registriernummer 015-088.

[II] Sotiriadis A et al. (2019): Maternal and perinatal outcomes after elective induction of labor at 39 weeks in uncomplicated singleton pregnancy: a meta-analysis. Ultrasounds in Obstetrics and Gynecology. DOI: 10.1002/uog.20140.

[III] Grobman WA et al. (2018): Labor Induction versus Expectant Management in Low-Risk Nulliparous Women. New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa1800566.

[IV] Middleton P et al. (2020): Induction of labour at or beyond 37 weeks' gestation. Cochrane Database of Systematic Reviews. DOI: 10.1002/14651858.CD004945.pub5.