Zum Hauptinhalt springen
18.01.2021

Diskussion über Impfpflicht gegen COVID-19 für Pflegepersonal

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder brachte Mitte Januar eine mögliche Impfpflicht für Pflegepersonal in die Debatte um die laufenden Impfungen gegen COVID-19 ein. Er begründete dies mit der scheinbar niedrigen Impfbereitschaft in der Berufsgruppe. Zuvor hatten verschiedene Umfragen und Einzelberichte ein heterogenes Bild in der Öffentlichkeit gezeichnet, darunter eine viel zitierte Blitzumfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Das COSMO-Projekt (COVID-19 Snapshot Monitoring) hat am 15.01.2021 eine Sonderauswertung seiner Bevölkerungsstudie zum Thema Impfskepsis unter medizinischem Personal veröffentlicht [I]. Die beteiligten Forschenden ermittelten Vertrauen in die Sicherheit der Impfung als wichtigsten Einflussfaktor auf die Impfbereitschaft. Die Ausführungen weisen außerdem darauf hin, dass sich eine Impfpflicht für Pflegepersonal nachteilig auf das Verhalten aller Menschen auswirken könnte. So würden Laborstudien aus einem anderen Kontext darauf hinweisen, dass schon die theoretische Auseinandersetzung mit einer Impfpflicht bei Probanden Reaktanz erzeugte [II], sie also ihre eingeschränkte Freiheit in anderen Bereichen zu kompensieren versuchen. In Bezug auf die COVID-19-Pandemie könnte sich das beispielsweise durch eine geringere Akzeptanz für andere Maßnahmen, wie dem Tragen von Masken, oder für (andere) freiwillige Impfungen äußern.

Gesundheitsminister Jens Spahn beteuerte, eine Impfpflicht werde es nicht geben, so wie er es zuvor immer versichert hatte, als im November erste, teils verschwörerische Diskussionen rund um einen neuen Passus des Infektionsschutzgesetzes losgebrochen waren. Söder forderte den Deutschen Ethikrat auf, die Impfpflicht für Pflegepersonal zu prüfen, nachdem dieser zusammen mit der Ständigen Impfkommission (STIKO) und der Akademie der Wissenschaften Leopoldina Anfang November eine Empfehlung hinsichtlich der Priorisierung bei der praktischen Umsetzung von Impfungen bei knappem Impfstoff erarbeitet hatte [III].

Mehrere Politikerinnen und Politiker sowie Berufsverbände und teils auch Mitglieder des Ethikrates positionierten sich zu dem Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten. Das SMC befragte dazu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die den Vorschlag nachfolgend kritisch einordnen.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Stefan Görres, Leiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen
  •  

  • Dr. Hedwig Roggendorf, Verantwortliche des COVID-19-Impfzentrums MRI und der Reise-Impfsprechstunde/ Gelbfieberimpfstelle am Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München (TUM), München
  •  

  • Prof. Dr. Beate Blättner, Professorin für Gesundheitsförderung im Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda – University of Applied Sciences
  •  

  • Dr. Katharina Theresa Paul, Senior Research Fellow am Institut für Politikwissenschaft und Leiterin des Projekts KNOW-VACC, Universität Wien, Österreich
  •  

Statements

Prof. Dr. Stefan Görres

Leiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen

„Wir brauchen eine Impfsolidarität und zur Solidarität kann man nicht verpflichten.“

„Für die Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 gibt es keine eindeutige gesetzliche Grundlage. Nahezu alle Parteien sind sich – so heute anlässlich der Regierungserklärung von Gesundheitsminister Jens Spahn – deshalb auch einig, dass es – zunächst?! – keine Impflicht geben kann und wird. Alle wissen aber auch, dass ohne eine hohe Impfquote – laut Weltgesundheitsorganisation mindestens 60 Prozent – die Pandemie nicht kontrolliert und erst recht nicht eingedämmt werden kann. In einem demokratischen Staatsgebilde bleibt daher – so schwer es auch angesichts der hohen Inzidenz und Zahl der Verstorbenen fällt – nur der Weg, an die Einsicht und Bereitschaft der Bevölkerung zu appellieren.“

„Dazu notwendig ist eine absolute Meisterleistung in Sachen Kommunikationsstrategie seitens der Politik, möglicherweise sogar zielgruppenspezifisch – ältere/jüngere Menschen, Personen mit/ohne Migrationshintergrund, ärztliches und pflegerisches Personal. Damit diese erfolgreich sein kann, bedarf es zum einen einer hohen Sichtbarkeit an politischer Verantwortung gegenüber der Bevölkerung durch vertrauensbildende Maßnahmen. Diese bestehen vor allem aus Informationen und dem Treffen klarer, nachvollziehbarer und konsentierter Entscheidungen. Dies scheint über die Monate hinweg nur teilweise gelungen zu sein, denn bis heute ist es noch für viele Menschen nicht möglich, dass Wirrwarr an unterschiedlichen, sich ständig verändernden Regelungen – bis hinein ins Wohnzimmer – zu verstehen. Die Diskussion um Schulöffnungen ist nur ein Beispiel.“

„Psychologisch betrachtet führt dies nicht nur zu nachlassender Akzeptanz, sondern auch bei einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung zur Resignation. Genau das können wir aber angesichts der noch vor uns liegenden langen Wegstrecke mit der Pandemie am wenigsten gebrauchen. Außerdem braucht eine erfolgreiche Impfstrategie eine hohe Verlässlichkeit im Management und in den operativen Abläufen. Gerade an dieser Stelle aber gibt es eine Vielzahl kritischer Stimmen in allen erdenklichen politischen und nichtpolitischen Lagern – insbesondere vor Ort, in den Kommunen, Krankenhäusern und Pflegeheimen sowie Impfzentren. Von der späten Bestellung von Impfdosen über deren mangelnder Verfügbarkeit bis hin zu einem Durcheinander bei der Terminvergabe gehen die Beschwerden ohne Pause beim Gesundheitsminister ein, den man um seinen Job wahrlich nicht beneiden kann. Wenn wir also über eine Impflicht reden, die angeblich kein Politiker möchte, aber viele – wenn auch unausgesprochen – gerne hätten, dann meinen wir ja eigentlich eine Impfsolidarität. Und zur Solidarität kann man nicht verpflichten, aber durch Vertrauen dafür werben.“

„Eine Datenlage zur angeblich geringen Impfbereitschaft unter dem Gesundheitspersonal ist faktisch nicht vorhanden. Insofern ist dessen Skepsis gegenüber der Behauptung, seine Impfbereitschaft sei gering, groß und das Entsetzen über entsprechende Berichte in der Tagespresse ebenso. Aber man kann auch nicht die inzwischen zahlreichen Beispiele aus Einrichtungen und mehr oder weniger verlässlichen Kleinstudienergebnisse aus den eigenen Reihen einzelner Träger verkennen, die zumindest ein heterogenes Bild zeichnen. Angefangen bei einer äußerst geringen Impfbereitschaft von circa 30 Prozent bis hin zu nahezu 100 Prozent. Damit haben wir noch keine hinreichende Evidenz, aber dennoch ein sichtbares Phänomen, das zur Interpretation in die jeweils gewollte Richtung des Betrachters reizt. Nun kann es auch in der Kürze der Zeit noch keine größer angelegten Studien, geschweige denn entsprechend valide Ergebnisse geben. Und natürlich wird allerorts versichert, dass man getrost davon ausgehen könne, dass die Bereitschaft schon noch steigen werde, wenn man nur die große Gruppe der Pflege- und Pflegefachkräfte – circa 1,3 Millionen – mit dem Mittel der Aufklärung über zu erwartende oder nicht zu erwartende Spätfolgen ausreichend informiert oder zumindest unaufgeregt mit ihnen diskutiert. Dabei ist man leicht geneigt anzunehmen, dass nun gerade diese zumindest medizinisch aufgeklärte Gruppe um die Notwendigkeit des Impfens angesichts der ihnen anvertrauten Kranken und Pflegebedürftigen wissen müsste. Denn gerade sie ist es ja, die die Menschen unter schwersten Umständen pflegt oder in zu großer Zahl in den eigenen Händen sterben sieht. Aber vielleicht ist es gerade diese Aufgeklärtheit, die ihre Zurückhaltung zumindest teilweise erklärt. Sie können sich mögliche Unsicherheiten und Risiken eher vorstellen als ‚durchschnittliche‘ Mitbürger*innen, denn sie haben eine entsprechende Ausbildung und dementsprechend Fachkenntnisse.“

„Wie auch immer: Nicht nachvollziehbar ist für mich die Unterstellung, unter anderem seitens des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK), dass die Politik auf der Suche nach Erklärungen für die angekündigte ‚Ruckelei‘ rund um ihre Impfstrategie nun endlich die Sündenböcke in den Pflegenden gefunden zu haben scheint und ein Ablenkungsmanöver von den eigenen (politischen) Unfähigkeiten dazu. Im Zweifelsfall nehmen Pflegende, so wie alle anderen auch, ihr Persönlichkeitsrecht auf körperliche Unversehrtheit in Anspruch. Nicht mehr und nicht weniger. Dass sie sich dabei durchaus ihrer ethisch-professionellen Verantwortung gewiss sind, sollte man ihnen zugestehen. Um den emotionalen Druck sind sie jedenfalls nicht zu beneiden und der wird um sie herum gerade mächtig aufgebaut.“

„Mitunter ziehen vor allem Politiker einen Vergleich mit der Masern-Impfpflicht in Kitas, wenn es darum geht, eine schnell herbeigezauberte Begründung für die umstrittene Impfpflicht bei Corona zu finden. So wies der bayerische Ministerpräsident Söder kürzlich darauf hin mit der Begründung: ‚Die Auswirkungen von Corona sind mindestens genauso schlimm wie die von Masern.‘ Nun soll sich der Ethikrat damit befassen, was dieser allerdings mit einer spürbaren Zurückhaltung tut: Zum einen sollten aus seiner Sicht zumindest überhaupt erst einmal Kenntnisse darüber vorliegen, ob mit einer Impfung tatsächlich auch die Gefahr, weiterhin andere Menschen anzustecken, gebannt ist und zum anderen keine Langzeitfolgen zu befürchten sind. Diese Kenntnisse liegen bisher und in absehbarer Zeit nicht vor. Der Vergleich von Söder ist zunächst zwar naheliegend, wird aber durchweg nicht geteilt und bei näherem Hinsehen ist er zumindest ungenau: Anders als bei der COVID-19-Impfung geht man bei der Masern-Schutzimpfung davon aus, dass sie zu einer lebenslangen Immunität führt, bei ersterer hält sie vielleicht zwei bis drei Jahre, aber klar ist das noch nicht. Und bei der COVID-19-Impfung reicht eine Herdenimmunität von etwa 60 bis 70 Prozent, bei der Masern-Impfung muss eine Quote von mindestens 95 Prozent erreicht werden. Allein diese beiden Aspekte zeigen, dass der Vergleich zwar bemüht, aber nicht eins zu eins auf die Masern-Impfpflicht übertragen werden kann. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die zunächst als argumentativer ‚Versuchsballon‘ gestartete Initiative Söders uns eines Tages noch einmal einholen wird. Der Verlauf der Pandemie möge es verhindern.“

Dr. Hedwig Roggendorf

Verantwortliche des COVID-19-Impfzentrums MRI und der Reise-Impfsprechstunde/ Gelbfieberimpfstelle am Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München (TUM), München

„Für Menschen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen gilt ab 1. März 2020 eine Impfpflicht gegen Masern, das heißt, im medizinischen Bereich können keine Neu-Einstellungen erfolgen ohne eine nachgewiesene Immunität gegen Masern. Auch bereits eingestellte Mitarbeiter müssen dies bis zum 31.7.2021 nachweisen.“

„Da der Masern-Impfstoff seit über 50 Jahren auf dem Markt ist und seine Wirksamkeit und Sicherheit wissenschaftlich erwiesen ist, gibt es keinen Grund sich nicht impfen zu lassen – insbesondere im medizinischen Bereich.“

„Medizinisches Personal, insbesondere aus dem Pflegebereich, ist unzureichend gegen Influenza geimpft, wie zum Beispiel die OKaPII-Studie zur Influenza-Impfung [1] zeigte – 2018 waren nur 32,5 Prozent des Pflegepersonals geimpft. Bei Pflegepersonal scheint es, trotz vieler Aufklärungskampagnen, ein grundsätzliches Wissensdefizit insbesondere zur Influenza-Impfung und jetzt wohl auch zur COVID-19-Impfung zu geben. Daher war nicht davon auszugehen, dass es bei der COVID-19-Impfung besser würde. Neben dem Individualschutz sollte bei beiden Impfungen auch der Schutz der Patienten beziehungsweise der Schutzbefohlenen im Fokus stehen.“

„Bei einer COVID-19-Impfpflicht ist die Sachlage nicht so einfach, da es sich um einen neuen Impfstoff handelt, wo zugegebenermaßen die Langzeiterfahrungen in Bezug auf eventuelle Nebenwirkungen fehlen. Dadurch sind die Menschen verunsichert und haben Angst. Dabei wäre eine Impfpflicht meines Erachtens kontraproduktiv. Weitere Aufklärung, Testimonials eventuell auch Gemeinschaftsmotivation: ‚Hier sind Sie gut betreut – alle unsere Pflegekräfte sind gegen COVID-19 geimpft‘ könnten helfen.“

„Es kann aber durchaus sein, dass die COVID-19-Impfung zur ‚Reiseimpfung‘ wird, was – wie bislang bei der Gelbfieber-Impfung – klaglos hingenommen wird.“

Prof. Dr. Beate Blättner

Professorin für Gesundheitsförderung im Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda – University of Applied Sciences

„Die Impfung erscheint im Moment der einzige gangbare Weg, um die COVID-19-Krise in absehbarer Zeit zu beenden. Dennoch wissen wir im Moment noch relativ wenig über ihren konkreten Nutzen, zum Beispiel gibt es Unklarheiten über die Infektiosität von Geimpften und die Dauer des Impfschutzes. Der bestehende Handlungsdruck darf nicht dazu führen, dass das Prinzip der Informierten Entscheidung bei medizinischen Interventionen aufgehoben wird. Wir müssen offen und ehrlich mit den bestehenden Unsicherheiten umgehen, nur so können wir Vertrauen in die Impfung herstellen und die Impfbereitschaft erhöhen.“

„Die Impfung ist gerade erst angelaufen und es wird einige Zeit dauern, bevor überhaupt hinreichend Impfstoff vorhanden ist, um alle Personen zu impfen, die geimpft werden wollen. Eine Impfpflicht, bei der sich bestimmte Gruppen impfen lassen müssen, während für andere kein Impfstoff vorhanden ist, verbietet sich bereits aus ethischen Gründen.“

„Beschäftigte in der Gesundheitsversorgung, insbesondere Pflegekräfte, waren und sind durch COVID-19 einem besonderen Druck ausgesetzt. Es ist wenig sinnvoll, sie jetzt als Berufsgruppe zu diffamieren und ihnen mangelnde Impfbereitschaft zu unterstellen. Auch die Unterstellung, es seien Pflegekräfte, die besonders vulnerable Gruppen infizieren, ist nicht belegt.“

„Meiner Kenntnis nach beruht die Annahme einer geringen Impfbereitschaft unter Gesundheitspersonal auf den Ergebnissen einer Blitzumfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), die nicht in einem Fachjournal mit peer review erschienen sind und deren Aussagekraft methodisch mangels entsprechender Angaben nicht überprüfbar sind. Das sind keine belastbaren Aussagen. Es werden ergänzend Erfahrungen zitiert, auf die man aus anderen Ländern zurückgreifen könne. Auch dies sind Aussagen, die nicht überprüfbar sind.“

„Sollte es tatsächlich – verglichen mit einer nach Alter, Geschlecht und sozialem Status vergleichbaren Gruppe der Bevölkerung – eine geringere Impfbereitschaft bei Gesundheitspersonal geben, so wäre ein größerer Optimismus-Bias eine mögliche Erklärung dafür. Pflegekräfte rauchen gegebenenfalls auch dann, wenn sie auf einer thoraxchirurgischen Abteilung arbeiten und die möglichen Folgen des Rauchens täglich erleben. Gerade die Konfrontation mit unter Umständen lebensbedrohlichen Erkrankungen könnte dazu führen, dass sie sich selbst für unverwundbar halten.“

„Die Diskussion über eine Impfpflicht erfolgt zum völlig falschen Zeitpunkt am falschen Ort und dient nicht dazu, Vertrauen in die Politik herzustellen. Sie ist eher Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretiker*innen. Solange wir nicht zuverlässig wissen, ob Geimpfte die Infektion nicht an andere weitergeben können und wie lange der Impfschutz anhält, kann es keine Impfpflicht geben. Erst wenn wir sicher wären, dass Geimpfte andere nicht anstecken können, wäre es berechtigt, darüber nachzudenken, ob sichergestellt werden muss, dass die Berufsgruppen, die im engen Kontakt mit gegenüber schweren und teilweise tödlichen Krankheitsverläufen besonders vulnerablen Gruppen stehen, zu deren Schutz geimpft sein sollten.“

Auf die Frage, welche Lehren aus der Masern-Impfpflicht in Bezug auf COVID-19 zu ziehen sind:
„Masern und COVID-19 sind aus vielerlei Gründen schlecht zu vergleichen. Vor der Impfpflicht waren 93 Prozent der Schulanfänger*innen gegen Masern geimpft. Die gewünschte Impfquote von 95 Prozent wurde relativ knapp verfehlt. Im Moment sind etwa ein Prozent der Bevölkerung gegen COVID-19 geimpft und das nicht deshalb, weil sie nicht geimpft werden wollten.“

Dr. Katharina T. Paul

Senior Research Fellow am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, und Projektleiterin von „KNOW-VACC: Knowledge production and governance in vaccination policy. A comparison of vaccination registries in Austria and the Netherlands”

„Die politische Diskussion bezüglich einer möglichen Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen erfordert neben ethischen Überlegungen auch wissenschaftliche Evidenz – etwa zu Motiven, die die Impfbereitschaft des Gesundheitspersonals beeinflussen. Denn es ist bekannt, dass Ärztinnen und Ärzte sowie anderes Gesundheitspersonal eine Schlüsselrolle im Impfsystem spielen. Im besten Falle stärken sie das Vertrauen in Impfungen [2], doch auch in diesen Berufsgruppen ist geringe Impfbereitschaft ein bekanntes Phänomen [3] [4], unter anderem etwa bei der Influenza-Impfung [5]. Man könnte annehmen, dass das Gesundheitspersonal gut über Impfungen informiert ist, somit würde nicht mangelndes Wissen, sondern würden viel mehr strukturelle, organisatorische und soziale Faktoren die Impfbereitschaft negativ beeinflussen. So steht etwa das – vorrangig weibliche – Pflegepersonal zur Ärzteschaft oft in stark hierarchischer Beziehung und arbeitet zudem unter relativ schlechten Bedingungen. Diese Bedingungen sowie auch die Erfahrung, von medizinischer Autorität in der eigenen Kompetenz nicht genügend wahrgenommen zu werden, bieten Nährboden für Misstrauen. Zuletzt kann auch die prekäre sozioökonomische Stellung von Pflegekräften zu mangelnder Impfbereitschaft führen. Da die Datenlage allgemein sowie zu spezifischen Haltungen bezüglich der COVID-19-Impfung noch begrenzt ist, scheint eine auf das Pflegepersonal beschränkte Impfpflicht aktuell nicht vertretbar.“

„Die Begrenzung der Debatte auf Pflegekräfte birgt eine Reihe an politischen Risiken, die dem Impfsystem langfristig schaden könnten. Einerseits kann eine zu starke Betonung der mangelnden Impfbereitschaft unter dem Pflegepersonal nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung an sich schwächen, sondern auch das Vertrauen in und die Rolle des Pflegepersonals selbst. Diese Polarisierung wiederum könnte die bereits bestehende Unsicherheit gegenüber der COVID-19-Impfung unter dem Pflegepersonal noch verstärken. Andererseits bietet auch die Forschung zu einer allgemeinen Impfpflicht wichtige Hinweise: Aus der der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschung ist bekannt, dass eine Impfpflicht bestehende Impfskepsis noch verstärken kann [6] beziehungsweise sogenannte Reaktanz, also Widerstand, fördern kann – und zwar bei jenen, die nicht grundsätzlich Impfungen ablehnen, sondern noch unsicher sind [7]. Da dies bei der neuen COVID-19-Impfung auf große Bevölkerungssegmente zutreffen mag, könnte sich selbst eine berufsgruppenspezifische Impfpflicht negativ auf die Impfbereitschaft insgesamt auswirken. Eine Evaluierung der Einführung der Masern-Impfpflicht in Kindertagesstätten und deren Auswirkung auf die Impfbereitschaft beim pädagogischen Personal könnte nähere Einsichten bieten, die in dieser Frage von Bedeutung sein könnten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Stefan Görres: „Ich versichere, dass keine Interessenskonflikte hinsichtlich der von mir geäußerten Meinung bestehen.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Robert Koch-Institut (2020): OKaPII-Studie: Online-Befragung von Klinik­personal zur Influenza-Impfung.

[2] Yaqub O et al. (2014): Attitudes to vaccination: A critical review. Social Science & Medicine; 112: 1–11. DOI: 10.1016/j.socscimed.2014.04.018.

[3] European Center for Disease Control ECDC (2015): Vaccine hesitancy among healthcare workers and their patients in Europe. A qualitative study.

[4] Verger P et al. (2015): Vaccine Hesitancy Among General Practitioners and Its Determinants During Controversies: A National Cross-sectional Survey in France. EBioMedicine; 23 2 (8): 891-7. DOI: 10.1016/j.ebiom.2015.06.018.

[5] Wicker S et al. (2009): Influenza vaccination compliance among healthcare workers in a German university hospital. Infection. 37 (3): 197-202. DOI: 10.1007/s15010-008-8200-2.

[6] Omer S et al. (2019): Mandate vaccination with care. Nature; 571 (7766): 469-472. DOI: 10.1038/d41586-019-02232-0.

[7] Betsch C et al. (2016): Detrimental effects of introducing partial compulsory vaccination: experimental evidence. European Journal of Public Health; 26 (3): 278-381. DOI: 10.1093/eurpub/ckv154.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] PIDI Lab/COSMO Team Erfurt (15.01.2021): Impfskepsis unter medizinischem Personal.

[II] Betsch C et al. (2015): Detrimental effects of introducing partial compulsory vaccination: experimental evidence. European Journal of Public Health; 26 (3): 278-381. DOI: 10.1093/eurpub/ckv154.

[III] STIKO, Deutscher Ethikrat und Leopoldina (09.11.2020): Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden?