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29.04.2023

Bayern erleichtert Wolfsjagd – Konflikte zwischen Mensch und großen Raubtieren

     

  • Diskussion um die Rückkehr großer Raubtiere brandet nach Verabschiedung der Wolfsverordnung in Bayern und Zwischenfällen mit Bären wieder auf
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  • Wolfspopulation in Deutschland wächst jedes Jahr, Konflikte durch gerissene Schafe und Ziegen und Forderungen nach mehr Herdenschutz
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  • Fachleute diskutieren, wie die Koexistenz gelingen kann
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Mitte April wird ein Mann in Italien beim Joggen von einem Bären getötet, kurze Zeit später werden in Bayern drei Schafe von einem anderen Bären gerissen. In Bayern verabschiedet das Kabinett der Landesregierung am 25.04.2023 eine Verordnung [I], die ab Anfang Mai die Jagd auf Wölfe erleichtern soll. Die in Deutschland polarisierte und oft aufgeheizte Debatte um Konflikte zwischen großen Raubtieren und dem Menschen und seinen Nutztieren erfährt einen neuen Schub. Mit der in diesen Tagen beginnenden Weidesaison wird es vermutlich in nächster Zeit wieder vermehrt Berichte über von Wölfen gerissene Schafe, Ziegen und Kälber geben. Das SMC hat deshalb Expertinnen und Experten gebeten, wichtige Argumente und Abwägungen darzustellen.

Auch wenn es in Deutschland durchaus geeignete Lebensräume für Braunbären gibt: Seit 1835 der letzte wildlebende Braunbär getötet wurde, gibt es bis heute keine sesshafte Population. Hin und wieder tauchen einzelne Tiere auf, die auf der Suche nach einem eigenen Territorium oft weite Strecken zurücklegen und so aus dem nächstgelegenen Verbreitungsgebiet in Norditalien das südliche Bayern durchwandern. 2006, 2019 und nun im April 2023 gab es derartige Beobachtungen.

Anders sieht es den Wölfen aus. Im Jahr 2000 wurde in der Lausitz erstmals wieder eine erfolgreiche Aufzucht von Welpen in Deutschland nachgewiesen. Seitdem nimmt die Zahl der Wölfe von Jahr zu Jahr zu. Ende 2022 gab es hierzulande 161 Rudel – meist zwischen drei und sieben Tiere –, 43 Paare und 21 Einzeltiere [II]. Eine Schätzung des Gesamtbestandes ist nicht möglich, da das Monitoring auf den Nachweis von Rudeln, Paaren und territorialen Einzeltieren abzielt. Sicher nachgewiesen wurden mindestens 1175 Wolfsindividuen [II]. Die meisten besetzten Wolfsterritorien gibt es in Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen [III]. Mit der weiter steigenden Anzahl von Wölfen kommt es auch immer häufiger zu Konflikten mit dem Menschen. So wurden im Jahr 2021 bei gut 1.000 Übergriffen gut 3.400 Nutztiere getötet, davon 85 Prozent Schafe und Ziegen [IV]. In ausgewiesenen Wolfsgebieten werden daher Herdenschutzmaßnahmen staatlich gefördert.

Der in Europa steht der Wolf als ‚prioritäre Art‘ durch die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie [V] unter einem besonderen Schutz. Diese wurde 2021 für geschützte Arten wie Wolf und Bär erweitert [VI]. Demnach dürfen Wölfe nur dann getötet werden, wenn sie sich dem Menschen gegenüber auffällig verhalten [VII]. Die nun am Dienstag (25. April 2023) vom Kabinett der bayerischen Landesregierung beschlossene Verordnung soll den Abschuss von Wölfen erleichtern. Künftig ist es nun in dem Bundesland erlaubt, Wölfe zu töten, wenn ein Weidetier auf einer Fläche gerissen wurde, deren Schutz mit Herdenschutzmaßnahmen ‚nicht möglich oder nicht zumutbar ist‘ [I], oder wenn eines der Tiere mehrere Tage weniger als 200 Meter entfernt von Ortschaften oder Tierställen gesichtet wird. Dabei ist es nicht notwendig, ausschließlich das Tier zu töten, das für den Riss verantwortlich ist beziehungsweise in der Nähe von Menschen gesehen wurde. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte im Vorfeld für die Entscheidung geworben, da er ohne die Maßnahmen die traditionelle Alm- und Weidewirtschaft gefährdet sieht. In Bayern leben aktuell drei Rudel, ein Wolfspaar und zwei Einzeltiere.

Übersicht

     

  • Heiner Schumann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Wildtierökologie, Institut für Waldökosysteme, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Eberswalde
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  • Prof. Dr. Ilse Storch, Professur für Wildtierökologie und Wildtiermanagement, Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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  • Prof. Dr. Klaus Hackländer, Leiter des Instituts für Wildbiologie und Jagdwirtschaft (IWJ), Department für Integrative Biologie und Biodiversitätsforschung (DIBB), Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Wien, und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung, Österreich
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  • Dr. Norman Stier, Wissenschaftliche Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für Forstzoologie, Institut für Forstbotanik und Forstzoologie, Fachrichtung Forstwissenschaften, Technische Universität Dresden
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  • Dr. Nestor Fernandez, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
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Statements

Heiner Schumann

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Wildtierökologie, Institut für Waldökosysteme, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Eberswalde

„In der Debatte um die Wölfe in Deutschland gibt es aus meiner Sicht drei wichtige Bereiche, die unbedingt berücksichtigt werden müssen, wenn wir den Blick auf die Koexistenz von Mensch und Wolf richten. Da sind zum einen die Sorgen und Ängste in der Bevölkerung – es ist enorm wichtig, die absolut ernst zu nehmen und nicht vom Tisch zu wischen. Denn dort, wo es Wolfspopulationen gibt, taucht ein Tier auch mal in der Nähe von Menschen auf – vielleicht näher, als man sich das vorgestellt hat. Die Situation wird dann manchmal kritischer eingeschätzt als sie tatsächlich ist. Oder im umgekehrten Fall, dass ein Wolf gefüttert wird. Es ist wichtig, der Bevölkerung regelmäßig sachliche Informationen anzubieten. Denn wenn ich weiß, dass im Frühjahr die Jungtiere aus dem Revier ihrer Eltern abwandern, dabei naturgemäß noch unerfahren sind und sich deshalb auch mal in Ortschaften verirren, dann nehme ich die Situation wahrscheinlich anders wahr.“

„Als zweiten wichtigen Punkt sehe ich Sorgen der Tierhalter. In einigen Fällen ist die Situation wirklich ein Problem. Manchmal ist es nach der Einwanderung von Wölfen notwendig, eine Form der Tierhaltung anzupassen, die in den vergangenen 50 Jahren ohne Wolf reibungslos funktioniert hat, die nun aber so nicht mehr geht. Allein den richtigen Umgang mit Elektrozäunen können Landwirte nicht mal so eben nebenbei lernen. Aber da müssen Landwirte aktiv eingebunden werden. Man kann nicht einfach sagen: ,Es ist jetzt halt so.’ Es ist immer schwierig, Gewohnheiten zu verändern.”

„Und schließlich müssen auch die Jäger als wichtige Gruppe berücksichtigt werden. Sie sind zwar vielleicht nicht so stark betroffen, aber gefühlt doch sehr. Denn wenn das Wild wegen der Anwesenheit eines großen Raubtieres das Verhalten ändert, dann ist eine Jagd weniger berechenbar. Wild vermeidet, wo möglich, Raubtiere – in der Wissenschaft wird hier vom Konzept der ‚Landscape of fear‘ gesprochen [1]. Für die Jäger ist es also zunächst möglicherweise schwieriger, erfolgreich zu jagen. Aber auch in Regionen, in denen der Wolf schon lange (wieder) da ist, bringen Jäger Wild zur Strecke. Obendrein gibt es die Sorge um den eigenen Jagdhund. In Schweden, wo eine andere Jagdform üblich ist, passiert es regelmäßig, dass Jagdhunde von Wölfen verletzt oder getötet werden. Bei uns ist das bisher zum Glück nur sehr selten belegt. Aber auch wenn es bis jetzt so selten ist – die Sorge ist da und dieser muss man in der Debatte Rechnung tragen.”

Auf die Frage, in welchen Landschaften die Konflikte zwischen Wolf und Mensch besonders schwierig zu lösen sind:
„Schwer wird es immer an Deichen und in Hanglagen, nicht nur in den Alpen, sondern auch in den Mittelgebirgen. Nicht alle Weideflächen lassen sich mit vertretbarem Aufwand umzäunen. Im norddeutschen Hinterland ist die Landschaft beispielsweise häufig mit vielen Wassergräben durchzogen. Da sind die Weiden dann zwar sehr schmal, dafür aber in der Länge weit ausgedehnt. Man kann dort teilweise kaum Zäune bauen – nicht nur wegen der Größe, sondern auch weil es in dem weichen Torfboden Schwierigkeiten mit der Standfestigkeit gibt. Hier ist das Problem dann, dass die Wölfe schlau genug sind, um Strategien zu entwickeln und zum Beispiel Rinder in die Gräben treiben, wo sie wehrlos sind.“

„Die Beweidung der Deiche mit Schafen ist ausgesprochen wichtig für die Deichsicherheit. Aber auch hier ist es schwer bis kaum möglich, geeignete Zäune aufzustellen. Am Ende werden wir als Gesellschaft mit diesem Problem leben müssen. Wolfsfreie Zonen sind mit dem derzeitigen EU- Recht nicht vereinbar. Zudem: Bei der aktuellen Wolfsdichte würden nach einem Abschuss immer wieder neue Wölfe kommen – pro Nacht wandern sie 70 Kilometer und auch mal deutlich mehr. Da bringen Abschüsse vielleicht kurzzeitig etwas Ruhe, aber keine dauerhafte Lösung, denn neue Tiere können jederzeit auftauchen und eine Weile große Schäden anrichten. Es können manchmal Wochen bis Monate vergehen, bis man den gesuchten Wolf auch wirklich erwischt, vor allem wenn es ein durchziehendes Tier ist – nach dem Motto: heute hier morgen dort.“

„Es gibt keine ultimative Herdenschutzlösung, die für alle Regionen eine Lösung bringt. Im Flachland ist es im Grunde oftmals umsetzbar, aber bei weitem nicht immer. Aber jeder Betrieb ist ein Einzelfall und selten vergleichbar. Mit gut gewarteten Elektrozäunen und (wo möglich) im Zusammenspiel mit gut ausgebildeten Herdenschutzhunden kann es funktionieren. Ein Restrisiko wird es allerdings immer geben. Wo es Probleme gibt, die über das durch die Gesellschaft akzeptierbare Maß hinausgehen, muss dem Tierhalter rasch geholfen werden.“

„Für Deiche und Almen muss man auch über scheinbar vergessene Lösungen nachdenken: Der Job des Hirten kann hier und da Teil einer Lösung sein. Aktuell ist das eine wirtschaftlich meist unattraktive Arbeit. In der Schweiz zum Beispiel gibt es inzwischen Konzepte und wirtschaftliche Anreize, die teilweise auch wieder das Interesse von jungen Leuten für diesen Beruf wecken. Allerdings hat das Alpenpanorama auch ein ganz anderes Sehnsuchtspotenzial als ein manchmal recht monotones Grünland unter endlosen Windrädern, wo es nur wenige Romantiker hin verschlagen wird.“

„Unstrittig ist in jedem Fall, dass Herdenschutzkonzepte und deren Umsetzung Geld kosten. Das darf nicht allein den Tierhaltern aufgebürdet werden. Die Gesellschaft, die Beutegreifer in einer Kulturlandschaft möchte, muss auch ausreichend dafür auch aufkommen. Es gibt nichts für umsonst“

Auf die Frage, inwiefern die Rückkehr anderer großer Beutegreifer zu weiteren Problemen führen könnte:
„Für den Luchs sehe ich das weniger problematisch als bei Wolf und Bär. Der Luchs als Einzelgänger hat ein anderes Ausbreitungspotenzial und ein anderes Schadensbild, so dass es wohl seltener Großschadensereignisse wie durch die Wölfe geben würde. Bären sorgen dagegen in Deutschland bisher immer für große Aufregung, wenn mal ein Tier durchwandert. Ich denke, eine Rückkehr von Braunbären würde von Teilen der Öffentlichkeit sehr kritisch gesehen, wie man auch aus dem momentanen Medieninteresse deuten kann. Eben weil diese auch auf Nutztiere gehen, Bienenstöcke plündern und vor allem weil es auch nicht ausgeschlossen ist, dass es zu folgeschweren Begegnungen mit Menschen kommt. Ich selbst allerdings bewege mich auch zukünftig ohne Furcht, aber wohl mit Respekt, in Bärengebieten.“

Auf die Frage, inwiefern eine „friedliche“ Koexistenz zwischen Mensch Wolf möglich ist:
„Eine Koexistenz ist möglich, aber die wird wohl nie völlig friedlich sein. Es wird immer Probleme mit bestimmten Arten geben. Dann müssen wir als Gesellschaft entscheiden, was wir zu akzeptieren bereit sind. Hier sehe ich eine Diskrepanz zwischen Menschen in der Stadt und auf dem Land. In der Stadt ist die Sehnsucht nach symbolträchtigen Tieren groß, die für unberührte Natur stehen. Auf dem Land ist das ganz anders, wenn die Tiere auch mal vor oder in der eigenen Haustür stehen. Die Konflikte zwischen Mensch und Tier ließen sich auf das Maß minimieren, das die Bevölkerung bereit ist, mitzutragen. Das kann lokal sehr unterschiedlich sein und sich auch mit der Zeit in die eine oder andere Richtung ändern“

Auf die Frage, inwiefern durch den Wolf die Wirtschaftlichkeit von Landwirtinnern und Landwirten mit Tierhaltung gefährdet ist:
„Es kann zu Situationen kommen, in denen der Aufwand für die Tierhalter größer ist als der wirtschaftliche Ertrag. Es gibt aber auch die Fälle, in denen der der Wolf nur den Tropfen verursacht, der das Fass eines wirtschaftlich unter Stress stehenden Betriebs zum Überlaufen bringt: Landwirtinnen und Landwirte haben heute mit vielen Herausforderungen zu kämpfen. Aber in Brandenburg zum Beispiel ist die Schafhaltung im vergangenen Jahr interessanterweise um fünf Prozent angestiegen und das, obwohl es dort eine enorm hohe Wolfsdichte gibt.“

„Mein Eindruck ist, dass die Probleme der Schäfer und in der Schafhaltung erst mit der Rückkehr der Wölfe langsam in der öffentlichen Wahrnehmung ankommen. Vorher hat sich kaum jemand für deren immer größer werdenden Schwierigkeiten interessiert. Niemand weiß, ob sich die Schafhaltung nicht vielleicht geräuschlos verabschiedet hätte. Auf jeden Fall ist die Wichtigkeit der Weidetierhaltung in all ihren Facetten für den Naturschutz mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung zu heben. Es sollte niemals dazu kommen, dass für den Schutz einer Art eine Struktur wie die Weidetierhaltung geopfert wird. Aber diese Sorge habe ich nicht, es gibt bereits viele gute Ansätze, die weiter zu verbessern sind. Dort, wo Probleme überhandnehmen, muss im Rechtsrahmen gehandelt und dieser gegebenenfalls auch den Entwicklungen angepasst werden.”

Auf die Frage, welche weitere Entwicklung der Wolfspopulationen und -territorien möglich sind:
„Ich denke, da ist aus Sicht der Wölfe in einigen Ecken noch Luft nach oben. Südwestliche Bundesländer sind momentan nur punktuell von Wölfen besiedelt. Allerdings weiß heute niemand , ob sie sich dort jemals so ausbreiten werden. Wenn man es zulassen würde, dann ist das aus Sicht der Wölfe denkbar, denn vor allem im Westen und Süden Deutschlands gibt es noch viele unbesetzte Habitate.“

„In Brandenburg wird sich nur im Norden noch wirklich was tun. Der Süden Brandenburgs ist inzwischen weitgehend besiedelt und im Norden schließen sich aktuell die noch offenen Lücken. Eine Habitatstudie hält für Deutschland zwischen 700 und 1.400 Wolfsterritorien für möglich [2], aber das ist rein aus Sicht der Wölfe. Die Gesellschaft hat daran auch einen Anteil und niemand kann heute sagen, was die Gesellschaft bereit zu akzeptieren sein wird.“

„In Brandenburgs Süden und im Norden von Sachsen sowie anderen Bundesländern steigen die Zahlen der besetzten Reviere kaum noch beziehungsweise sie stagnieren sogar. Dort sind bereits viele der möglichen Territorien besetzt. Solange es genug Nahrung gibt, kann es sein, dass die Reviere sich etwas verdichten, also kleiner werden. Das hat aber eine Grenze, ab der ein Habitat nicht noch mehr Tiere tragen kann. Wenn es an Ressourcen fehlt, steigen wie bei anderen Arten auch die innerartlichen Konflikte, die dann wiederum bremsend auf einen Bestand einwirken können.“

Auf die Frage, inwiefern die Anwesenheit des Wolfes den jeweiligen Ökosystemen hilft oder ob es sie zusätzlich unter Stress setzt:
„Da ist die Frage, welche Brille man bei der Betrachtung aufsetzt. Also, als Reh würde einen die Anwesenheit von Wölfen wahrscheinlich stressen. Aber in ein Ökosystem als Ganzes gehörten lange auch Raubtiere. Stellen wir bei der Frage den Nutzen für den Menschen in den Mittelpunkt, ist die die Antwort schwerer zu finden, als wenn das Ökosystem im Zentrum steht. Ökologisch sind Spitzenprädatoren in einem Ökosystem immer relevant.“

Prof. Dr. Ilse Storch

Professur für Wildtierökologie und Wildtiermanagement, Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Das Naturschutzgesetz in Deutschland – ebenso wie das EU-Recht – sieht vor, die Rückkehr ausgestorbener Arten zu fördern. Dahinter steht die Einsicht, dass nur ein komplettes Arteninventar die vielfältigen Ökosystemfunktionen gewährleisten kann. Wenn wir naturnahe Ökosysteme wollen, müssen wir damit umgehen lernen, dass ‚Natur‘ nicht immer bequem ist.“

„Dort, wo große Fleischfresser fehlen, können Huftiere – Rehe, Rothirsche und Wildschweine – Dichten erreichen, die Förstern und Landwirten große Probleme bereiten. Dort, wo Wolf, Bär und Luchs dagegen nie ausgerottet waren, bleiben die Dichten ihrer Beutetiere niedriger. Zudem verteilen sie sich anders und meiden Flächen, die sie als besonders riskant empfinden, weil sie aufgrund ihrer Vegetation oder Topographie den Beutegreifern gute Zugriffsmöglichkeiten bieten. Ein weiteres Beispiel für Wechselwirkungen zwischen Arten, die den Naturschutz unterstützen können: Große Fleischfresser begrenzen die kleineren. Wo es Wölfe gibt, ist zu erwarten, dass die Füchse weniger werden, so dass sich der Naturschutz vielleicht etwas weniger um die Bodenbrüter sorgen muss.“

„Es ist erklärtes Ziel des Naturschutzes in Deutschland und der EU, ausgestorbene beziehungsweise ausgerottete Arten zurückzubringen. Das heißt aber nicht, dass sie aktiv ausgesetzt werden müssen. Viele Arten kommen von allein zurück, wenn man sie nicht mehr verfolgt und geeigneter Lebensraum vorhanden ist. Wolf, Bär, Luchs, Biber, Otter sind alle gezielt ausgerottet worden – bei anpassungsfähigen Arten ist nicht der Lebensraum begrenzend, sondern der Mensch.“

„Dementsprechend werden Bären in Deutschland in den Alpen gelegentlich von Österreich einwandern oder sich im Grenzbereich ansiedeln. Wölfe werden früher oder später alle geeigneten Lebensräume in Deutschland erschließen. Auch Biber und Otter breiten sich von allein weiter aus. Luchse sind weniger wanderfreudig, so dass dieser Prozess sehr viel länger dauern wird und durch aktive Ansiedlungen – wie bereits im Pfälzer Wald oder im Harz – gestützt werden könnte.“

„Probleme wird es immer geben, aber eine Gesellschaft kann lernen, damit umzugehen. Gebiete wie Portugal und Nordspanien, der Balkan, die Apenninen, in denen große Fleischfresser immer vorkamen, zeigen eine entspanntere Sicht auf die großen Tiere. Auch in der Lausitz ist man heute gelassener als vor 20 Jahren, als die Wölfe noch neu waren. Wichtig ist, vielfältige Ansätze und Erfahrungen aus anderen Regionen – etwa zum Herdenschutz – anderswo zu prüfen, auszuprobieren und weiterzuentwickeln.“

„Natürlich wird zum Beispiel für einen Alm-Bauern das Wirtschaften aufwändiger, wenn sich im Gebiet Wölfe oder Bären ansiedeln. Da ist eine gute und unbürokratische Unterstützung beim Herdenschutz geboten. Die Wirtschaftlichkeit der Alm- und Alpwirtschaft hängt zu einem großen Anteil von Subventionen ab. Wer von der Allgemeinheit subventioniert wird, muss auch akzeptieren, dass damit gewisse Forderungen verbunden sein können, wie etwa das Tolerieren von Wildtieren.“

Auf die Frage, welche weitere Entwicklung der Wolfspopulationen und -territorien möglich sind:
„Die Population wird sich weiter ausbreiten und früher oder später alle geeigneten Gebiete erschließen. Trotzdem wird die Dichte lokal nicht weiter ansteigen, dort wo eine Population flächig etabliert ist – etwa in der Lausitz –, weil Wölfe streng territorial sind. Die bisherigen Erfahrungen aus Nordostdeutschland zeigen Dichten von einem Rudel pro 200 Quadratkilometern – mehr werden es nicht werden.“

„Wo beziehungsweise wie viele Wölfe vertretbar sind, also akzeptiert werden, ist keine ökologische Frage! Manche Länder versuchen es mit einer definierten Anzahl Wölfen, die nicht überschritten werden soll, etwa Schweden. Danach werden dann Abschusszahlen festgelegt. Anderswo (Frankreich) wird ein bestimmter Prozentsatz der Population zum Abschuss freigegeben. Auch das sind Versuche, sich an einen Umgang mit diesen Tierarten heranzutasten. Wichtig ist es, Ziele zu definieren: Was soll das Management bewirken? Pauschale Abschüsse werden den Herdenschutz nicht ersetzen können.“

„Die Rückkehr des Wolfes ist ein wichtiger Schritt zum Erreichen natürlicher, voll funktionsfähiger Ökosysteme mit einem vollständigen Arteninventar, ihren vielfältigen Wechselwirkungen und natürlichen Prozessen.“

Auf die Frage, unter welchen Umständen die eigentlich scheuen Wildtiere die Nähe des Menschen nicht konsequent meiden:
„Heikel ist es immer, zwischen eine Bärin und ihren Nachwuchs zu kommen. Ob das bei dem Fall in Italien mit dem getöteten Jogger der Fall war, lässt sich wohl nicht klären. Dass es zu tödlichen Unfällen kommt, lässt sich nie zu 100 Prozent ausschließen. Aber auch in Gebieten mit flächigem Vorkommen von Wolf und Bär sind das Einzelfälle. Die Frage ist dann ja auch: Warum tolerieren wir, dass jährlich etliche Menschen durch Hunde, Rinder, Wildschweine zu Tode kommen? Heikel ist auch, wenn Wölfe oder Bären gefüttert werden und damit lernen, die Nähe des Menschen zu suchen. Zu Bedenken ist auch, dass Jungtiere entsprechendes Verhalten von ihren Müttern und ihrem Rudel lernen.“

Prof. Dr. Klaus Hackländer

Leiter des Instituts für Wildbiologie und Jagdwirtschaft (IWJ), Department für Integrative Biologie und Biodiversitätsforschung (DIBB), Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Wien, und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung, Österreich

Auf die Frage, inwiefern eine „friedliche“ Koexistenz zwischen Mensch Wolf möglich ist:
„Voraussetzung für die Koexistenz ist ein funktionierender Herdenschutz und eine schnelle und unbürokratische Entnahme von Wölfen, die ein unerwünschtes Verhalten zeigen. Beim Herdenschutz brauchen wir mehr finanzielle Unterstützung der Nutztierhalter und umfangreiche Beratung.“

„Die Kosten für Präventivmaßnahmen entstehen nicht nur durch den Ankauf von Herdenschutzhunden oder Elektrozäunen, sondern auch durch die Haltung der Hunde auch im Winter oder die Pflege der Zäune, damit diese auch stromführend bleiben. Unser größtes Problem beim Herdenschutz ist, dass es ohne den Menschen als Hirten oder Schäfer nicht ausreichend sein wird, wenn Wölfe im Umfeld von Nutztierhaltungen leben. Wir brauchen also rasch eine Neuorientierung der Nutztierhaltung. Dort, wo Herdenschutz möglich ist, muss dieser installiert werden. Dort, wo er technisch oder wirtschaftlich nicht möglich ist – etwa auf Almen und Deichen –, müssen entweder Nutztierweiden aufgegeben werden oder Zonen etabliert werden, in den Wölfe nicht geduldet werden, also durch Töten entnommen werden. Die rechtlichen Voraussetzungen zur Entnahme einzelner Wölfen mit unerwünschtem Verhalten ist jetzt schon gemäß Artikel 16 der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) möglich. Die Ausweisung von ‚Wolfsfreihaltezonen‘ bedarf einer wildökologischen Raumplanung, die aktuell durch den Schutzstatus in Deutschland nach FFH-Richtlinie (Anhang IV) nicht möglich ist. Daher ist es wichtig, dass sich Deutschland dafür engagiert den Schutzstatus anzupassen, denn der Wolf gilt nach IUCN-Angaben in Europa seit 2007 als ‚nicht gefährdet‘.“

Auf die Frage, welche weitere Entwicklung der Wolfspopulationen und -territorien möglich sind:
„Aktuell erleben wir ein exponenzielles Wachstum mit einer Zuwachsrate von jährlich 33 Prozent, das heißt eine Verdopplung der nachgewiesenen Wölfe alle drei Jahre. Wir bewegen uns aktuell in Richtung Lebensraumkapazitätsgrenze und Modellierungen der Universität für Bodenkultur Wien im Auftrag des niedersächsischen Umweltministeriums haben ergeben, dass bis 2030 in Deutschland die für den Wolf optimalen Lebensräume besetzt sein werden [3]. Bis dahin haben wir also den von der FFH-Richtlinie eingeforderten ‚günstigen Erhaltungszustand‘ erreicht und eine regelmäßige Entnahme zur Abschöpfung des Zuwachses wäre angebracht.“

„Dafür müssen schon jetzt die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Greift der Mensch nicht ein, sind Konflikte mit dem Wolf sehr wahrscheinlich, insbesondere in Gebieten, die für Wölfe als ungeeignet angesehen werden, also in Siedlungen und Städten. Die Differenzkosten für Nutztierhalter, die durch Herdenschutzmaßnahmen entstehen, übersteigen deutlich den Wert von Nutztieren. Entweder werden künftig Fleisch, Milch und tierische Nebenprodukte entsprechend teurer, oder die Nutztierhalter geben auf. Wir müssten dann diese Produkte aus anderen Ländern beziehen – so wie jetzt schon Lammfleisch aus dem wolfsfreien Neuseeland. Das widerspricht der Strategie der Eigenversorgung, dem Trend hin zu mehr regionalen Produkten und auch dem Naturschutz. Letzterer profitiert in der Offenlandschaft durch extensive Beweidung (Bio-Nutztierhaltung), denn viele naturschutzfachlich wertvolle Lebensräume und Pflanzen – die auch von der FFH-Richtlinie streng geschützt werden – würden ohne Beweidung verloren gehen.“

„Der Wolf wird oft als Heilsbringer gesehen, um die mancherorts hohen Schalenwildbestände zu regulieren und damit den Waldumbau hin zu naturnahen und klimafitten Wäldern zu erreichen. Doch Wölfe können die heimischen Wildtiere nicht regulieren – nur jene, die hier nicht autochthon (indigene Arten, die seit langem und ohne menschlichen Eingriff in dem Gebiet leben; Anm. d. Red.)sind wie Muffelwild werden verschwinden, aber die Raubtiere ändern deren Verhalten. Wölfe wirken auf die räumliche und zeitliche Verteilung von Rehen, Hirschen und Wildschweinen. Ob das für das Ökosystem oder den Wildschaden von Bedeutung ist, ist regional sehr unterschiedlich. Jedenfalls ist der Wolf nicht immer ein Problemlöser, sondern schafft eventuell auch neue, weil zum Beispiel Rehe nicht mehr so vertraut sind und weniger leicht vom Jäger erlegt werden können. Dies gefährdet die Erfüllung der behördliche Abschusspläne, die für ein verträgliches Maß an großen Pflanzenfressern in der Kulturlandschaft notwendig sind. Stress durch Prädatoren wie dem Wolf kann letztendlich zu schlechterer Kondition bei seinen Beutetieren führen und damit zu geringeren Fortpflanzungs- und Reproduktionsraten. Aber bis das so weit sein könnte, gäbe es vorab überbordende Konflikte mit dem Menschen und seinen Nutz- und Haustieren, sodass nicht zu erwarten ist, dass Wölfe tatsächlich auf unsere großen Pflanzenfresser großflächig Einfluss nehmen.“

„In Ländern, in denen Wolf und Bär nie ausgestorben waren, funktioniert die Koexistenz aus zwei Gründen sehr gut. Einerseits werden die Großraubtiere bejagt und halten sich vom Menschen fern. Andererseits gibt es auch genügend Lebensraum, in den sie sich zurückziehen können und in denen wenig Konflikte herrschen. Denken wir an die großen zusammenhängenden Waldgebiete in den Karpaten oder den Dinariden (Gebirge in Osteurpa/Südosteuropa; Anm. d. Red.). Die Koexistenz funktioniert aber mittlerweile auch in Ländern, in denen der Wolf wieder Fuß fassen konnte. In Frankreich, wo der Wolf auch im Anhang IV der FFH-Richtlinie steht, hat man sich auf eine Obergrenze von 500 Wölfen im französischen (Vor-)Alpenland geeinigt. Wölfe werden dort bis zu dieser Obergrenze bejagt und ‚Problemwölfe‘ werden rasch und unbürokratisch entnommen. Das erhöht die Akzeptanz der ländlichen Bevölkerung, funktioniert aber auch nur, wenn es einerseits ein intensives Herdenschutzprogramm gibt und wenn es andererseits ein präzises Monitoring gibt, das den Bestand und seine Dynamik überwacht und das offenlegt, welche Maßnahmen für die Erhaltung des günstigen Erhaltungszustands notwendig sind. Schweden hat seine Obergrenze bei 300 Wölfen festgelegt und auch dies führt zu einer Entschärfung des Konflikts, wenn gleichzeitig der Mensch auf seine Nutztiere aufpasst.“

Auf die Frage, unter welchen Umständen die eigentlich scheuen Wildtiere die Nähe des Menschen nicht konsequent meiden:
„Braunbär Bruno – der 2006 in Bayern Schlagzeilen machte – war wie seine Schwester Gaia – die im April den Jogger in Italien tötete – ein Risikobär, der den Menschen nicht scheut beziehungsweise ihn auch mit Nahrung assoziiert. Für die Koexistenz ist es wichtig, dass derartige Tiere aus der Population entnommen werden. Der Bär, der vergangene Woche in Bayern auftauchte und offensichtlich wieder zurück in Österreich ist, war kein Risikobär, sondern ein Schadbär, der zwar Schafe gerissen hat – diese waren aber nicht ausreichend geschützt und niemand hat den Bären gesehen. Bruno war dagegen in Gehöften und hat sich auch nicht von Menschen, die ihn tagsüber beobachten konnten, vertreiben lassen. Neben der Entnahme von Risikobären oder ‚Problemwölfen‘ ist über kurz oder lang auch eine regelmäßige Bestandskontrolle durch Jagd notwendig – nicht nur um die Bestandsgröße anzupassen, sondern auch um die großen Beutegreifer scheu zu halten. Die Bejagung ist quasi eine Selektion, bei der die frechen, neugierigen und mutigen Tiere den Tod finden. Das hat der Mensch bei anderen Wildarten auch ‚geschafft‘, denn Wildschweine, Rehe und Hirsche sind bei uns mehrheitlich nachtaktiv – meiden also den Menschen. Auf Flächen, in denen die Jagd ruht – auch im Tal der Hirsche auf Gut Klepelshagen der Deutschen Wildtier Stiftung oder im Schweizerischen Nationalpark – sind Wildtiere tagaktiv und können einfach beobachtet werden, ohne Fluchtreaktionen. Abgesehen davon sollten Menschen in Wolfs- oder Bärengebieten grundsätzlich immer auf Wegen bleiben, Hunde anleinen, Kinder nicht aus dem Auge lassen und den Wildtieren in ihrem Lebensraum als Gäste begegnen, also respektieren, dass wir nicht alleine auf der Welt sind und Wildtiere ihre Rückzugsräume brauchen, in denen sie Nahrung, Paarungspartner und Sicherheit finden. Koexistenz ist nur möglich, wenn wir Menschen uns einschränken, aber auch Wildtiere in ihre Schranken weisen.“

 

 

 

Dr. Norman Stier

Wissenschaftliche Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für Forstzoologie, Institut für Forstbotanik und Forstzoologie, Fachrichtung Forstwissenschaften, Technische Universität Dresden

„Für eine großflächige Besiedlung in Deutschland, die essenziell für ein langfristiges Überleben der Population ist, muss eine Akzeptanz in breiten Teilen der Bevölkerung gegeben sein. Dies ist der Kern der gesamten Diskussion. Um eine möglichst breite Akzeptanz zu erreichen, müssen echte Kompromisse gefunden und geschlossen werden, was beiden Extremseiten in der Bevölkerung aktuell immer noch schwerfällt. Die drei Hauptkonfliktfelder sind unterschiedlich schwer zu minimieren.“

„Die Angst in der Bevölkerung kann durch eine breite und fachlich sehr gute Öffentlichkeitsarbeit minimiert werden, die mit einem guten Management kombiniert ist, bei dem verhaltensauffällige Wölfe möglichst schnell entnommen – also getötet – werden, damit es auf gar keinen Fall zu Zwischenfällen mit Menschen kommt. Nutztierrisse können durch gute Herdenschutzmaßnahmen stark minimiert werden. Reißen Wölfe trotz guter Herdenschutzmaßnahmen weiterhin Nutztiere, können diese durch die Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ebenfalls rechtskonform entnommen werden. Am wenigsten gelingt die Konfliktminimierung beim Komplex ‚Wolf–Wild–Jagd‘, weil Wölfe Schalenwild – wilde Paarhufer – als Hauptbeute haben. Den Anteil, den Wölfe jagen, können und müssen Jäger weniger jagen, da ansonsten die Schalenwildbestände schnell und deutlich sinken können. Für diese Berücksichtigung fehlt den Jägern in Deutschland leider das Handwerkszeug. Es fehlen solide Daten, wieviel dies in den jeweiligen Rudeln ist.“

Auf die Frage, inwiefern die Rückkehr anderer großer Beutegreifer zu weiteren Problemen führen könnte:
„Frühere und aktuelle Wiederansiedlungsprojekte von Luchsen in Deutschland und anderen europäischen Ländern zeigen, dass diese sehr gut und erfolgreich möglich sind, wenn sie unter Einbindung aller Interessenvertreter gut vorbereitet sind.“

„Landwirte bekommen Förderung für bessere Schutzmaßnahmen, haben aber zusätzlich höhere Aufwendungen, diese anzuwenden. Diese könnte man durch einen generellen Zuschuss/Förderung in Wolfslebensräumen zumindest teilweise ausgleichen. Wenn ein günstiger Erhaltungszustand erreicht und nachgewiesen wird, also das langfristige Überleben unserer Wolfspopulation gesichert ist, wäre eine Bejagung möglich, wie in einigen anderen Wolfspopulationen Europas.

Auf die Frage, welche weitere Entwicklung der Wolfspopulationen und -territorien möglich sind:
„Wölfe stehen am Ende der Nahrungskette und sind deshalb entscheidend im Ökosystem. Dazu gibt es gute Untersuchungen und auch sehr gute Dokumentarfilme, zum Beispiel aus dem Yellow Stone Nationalpark. Allein deshalb lohnen sich Anstrengungen, Wölfen in Deutschland eine dauerhafte, natürliche Wiederbesiedlung zu ermöglichen. Nach einem neuen Habitateignungsmodell des Bundesamtes für Naturschutz können in Deutschland über 1.000 Wolfsrudel leben [2]. Der Lebensraum gibt diese Populationsgröße her. Wie viele Tiere aber aus gesellschaftspolitischer Sicht ‚vertretbar sind/akzeptiert werden‘ wird die Zukunft zeigen und hängt stark vom Erfolg im Wolfsmanagement ab.“

Dr. Nestor Fernandez

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig

„Ich muss zugeben, dass ich wirklich schockiert war, nachdem ich die Entscheidung des bayerischen Kabinetts und die Kriterien für die Entscheidung, ob ein Wolf geschossen werden sollte, gelesen hatte. Sowohl die Entscheidung als auch die Kriterien scheinen auf keiner wissenschaftlichen oder vernünftigen Grundlage zu beruhen. Meiner Meinung nach wird sie auch nicht zur Entschärfung des Konflikts beitragen, sondern ihn eher noch verschärfen.“

„Die Ausrottung des Wolfes in der Vergangenheit war das Ergebnis historischer Versuche, jeden Aspekt der Natur zu kontrollieren, der als schädlich für den Menschen angesehen wurde. Dieses kulturelle Erbe bleibt bestehen: Heutzutage haben Wolfsangriffe relativ gesehen nur geringe Auswirkungen auf die Wirtschaft, und es gibt Mechanismen, um den wirtschaftlichen Verlust auszugleichen, aber die Angriffe lösen bei vielen Menschen immer noch emotionale Reaktionen aus.“

„Gleichzeitig betrachtet die Mehrheit der Menschen Wölfe als Teil des Naturerbes in Deutschland und Europa und ist bereit, den Wolf zu erhalten. Wir haben dies sehr deutlich in einer kürzlich durchgeführten Studie gesehen, in der wir eine repräsentative Stichprobe der deutschen Gesellschaft gefragt haben, ob sie bereit wären, Steuergelder für die Wiederansiedlung des Wolfes – neben anderen Arten – auszugeben, und nur 30 Prozent waren dagegen. Meiner Meinung nach spiegelt dies einen raschen Wandel in der Gesellschaft und eine positive Einstellung zur Koexistenz zwischen Menschen und Wildtieren wider. Viele Menschen erkennen an, dass die Natur in Deutschland auf ein unhaltbares Maß geschädigt wurde und dass die Rückkehr des Wolfes und anderer ausgerotteter Arten positiv gesehen wird. Dies ist eine sehr starke Botschaft. Die Aufhebung von Schutzmaßnahmen und die Tötung von Wölfen mit Argumenten, die keiner wissenschaftlichen Grundlage entbehren, führt dagegen nur zu mehr Konfrontation und Frustration.“

„Trotz eines eindeutigen Trends zur Erholung der Wolfspopulation in Deutschland ist die Wolfspopulationsdichte hierzulande immer noch geringer als in vielen anderen europäischen Ländern. Auch wenn die Erholung der Wolfspopulation in Europa weit verbreitet ist, ist sie immer noch gering, wenn wir sie in eine historische Perspektive der Wolfsverbreitung in der Vergangenheit setzen. Mir sind keine historischen Studien in Deutschland bekannt, aber unsere Forschungen auf der Iberischen Halbinsel zeigen, dass trotz einer vermeintlichen Erholung der Art die aktuelle Ausdehnung der Wolfspopulation weniger als ein Drittel der Verbreitung im 19. Jahrhundert beträgt. Diese historische Perspektive stellt das Erhaltungsproblem in einen objektiveren Kontext. Es ist wichtig anzuerkennen, dass sich die Wolfspopulationen immer noch in einem schlechten Zustand befinden. Wie bei vielen anderen in Europa ausgerotteten Arten sind mehr Erhaltungsmaßnahmen erforderlich, um eine natürliche Erholung zu ermöglichen, anstatt sie zu behindern.“

„Auch in Bayern sind die Wolfsübergriffe vergleichsweise nicht sehr hoch, und das Argument der Wolfsverfolgung scheint nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen. Eine vergangene Woche veröffentlichte Studie [4] hat gezeigt, dass die Wolfsschäden in Deutschland im Vergleich zur Wolfsdichte im Laufe der Zeit abgenommen haben, was bedeutet, dass trotz der wachsenden Wolfspopulation die Präventionsmaßnahmen wirksam zu sein scheinen. Auch wenn es immer wieder zu punktuellen Konflikten zwischen Naturschutz und Partikularinteressen kommen wird, ist eine Koexistenz auf lange Sicht mit geeigneten Präventions- und Minderungsmaßnahmen durchaus möglich.“

„Deutschland ist kein Einzelfall: Wir haben den gleichen Fehler wiederholt in anderen europäischen Ländern gesehen.“

„Die Tötung eines Menschen durch einen Bären in Italien war ein sehr trauriges und bedauerliches und zugleich seltenes Ereignis. Die Toleranz gegenüber Bären ist in vielen Regionen Europas sehr hoch, und es ist sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass diese seltenen Ereignisse nicht nur so weit wie möglich vermieden, sondern auch die Folgen nicht vergrößert werden. Menschen, die Gebiete mit wild lebenden Tieren besuchen, sollten über mögliche Risiken und deren Vermeidung informiert werden. Es gibt umfangreiche Erfahrungen in anderen Ländern – zum Beispiel in Kanada und den USA –, die wir als Lektion nutzen könnten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Weiterführende Recherchequellen

Bundesinformationszentrum Weidetiere und Wolf: Spannungsfeld Weidetier und Wolf - Wege zur Koexistenz. Bundesinformationszentrum Landwirtschaft

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Gaynor KM et al. (2019): Landscapes of Fear: Spatial Patterns of Risk Perception and Response. Trends in Ecology & Evolution. DOI: 10.1016/j.tree.2019.01.004.

[2] Kramer-Schadt S et al. (2020): Habitatmodellierung und Abschätzung der potenziellen Anzahl von Wolfsterritorien in Deutschland. Skript Nr 556 des Bundesamts für Naturschutz.

[3] Niedersächsisches Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz (2022): Modellbasierte Populationsstudie über den Wolf in Niedersachsen, als Teilaspekt zum Erhaltungszustand in Deutschland. Pressemitteilung zur Studie der Universität für Bodenkultur Wien im Auftrag des niedersächsischen Umweltministeriums.

[4] Singer L et al. (2023): The spatial distribution and temporal trends of livestock damages caused by wolves in Europe. Biological Conservation. DOI: 10.1016/j.biocon.2023.110039.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Bayerisches Ministerialblatt (26.04.2023): Bayerische Wolfsverordnung (BayWolfV).

[II] Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (2022): Statusbericht 2021/22.

[III] Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf: Wolfsterritorien 2021/22.

[IV] Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf: Wolfsverursachte Nutztierschäden in Deutschland.

[V] Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (1992): Richtlinie 92/43 /EWG DES RATES zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen.

[VI] Europäische Komission (2021): Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse
im Rahmen der FFH-Richtlinie.

[VII] Bundesamt für Naturschutz: Häufig gefragt: Wolf.