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15.04.2021

Wie weit ist die Forschung mit dem autonomen Fahren?

Es wird ernst mit der Zulassung automatischen Fahrens in Deutschland. Das entsprechende Gesetz ist an den Bundestag gegangen, am 03.05.2021 will der Wirtschafts- und Energieausschuss des Bundestages Experten zum Gesetz zum autonomen Fahren anhören [I] [II]. Noch hat der Ausschuss nicht veröffentlicht, welche Experten er geladen hat oder welche Themen er erörtern will; wir wollen Ihnen aber schon jetzt die Möglichkeit geben, anhand von Statements von Forschern, die an der Technik arbeiten, Ansatzpunkte für Berichte über den Stand der Forschung oder für die Einschätzung des Gesetzentwurfs zu finden.

Wir haben daher für diese Science Response vier Wissenschaftler gebeten, fünf Fragen zu beantworten. Dabei haben wir die Experten so ausgewählt, dass sie aus möglichst unterschiedlichen Blickwickeln die wichtigsten Aspekte der Forschung einbringen können.

Diese vier Forscher gehen alle davon aus, dass automatisches Fahren der Level 4 und 5 – also Fahrzeuge, die weitgehend (vollautomatisiert) oder vollständig ohne Fahrer (autonom) unterwegs sein können [III] — in den kommenden Jahren in vielen, kleinen Einzelschritten eingeführt werden dürfte. Dabei gehen sie davon aus, dass die Einführung durch Geschäftsmodelle getrieben wird. Wenn das stimmt, bedeutet das einerseits: autonome Fahrfunktionen dürften in diesem Jahrzehnt für die meisten Menschen kein Argument beim Kauf von PKW sein. Andererseits bedeutet das, die Einführung der Funktionen wird dort erfolgen, wo sich durch die Funktion Geld verdienen lässt, zum Beispiel durch das Einsparen von Fahrern in LKW oder Roboter-Taxen.

Das wäre dann ein wichtiger Hintergrund, um die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen zur Haftung oder zur Überwachung der Fahrzeuge im Betrieb einzuschätzen (vergleiche hierzu auch die Statements, die wir eingeholt haben, als der Entwurf vom Kabinett der Bundesregierung verabschiedet wurde [II]).

Technisch sehen die Wissenschaftler die größte Herausforderung nach wie vor beim Nachweis, dass die Software mit Hilfe von Sensoren unter allen Umständen Fahrzeuge, Menschen oder Tiere erkennen und sicher darauf reagieren kann. Für die Entwicklung von Prüfverfahren hierfür halten sie es für sinnvoll, herstellerübergreifende relevanten Fahrdaten auswerten zu können – das könne der europäischen Industrie sogar einen Vorsprung gegenüber den Entwicklern aus den USA und China verschaffen.

Deutlich weniger einig sind sich die Wissenschaftler bei der Frage, wie wichtig eine Kommunikation zwischen den Fahrzeugen oder zwischen Fahrzeug und der Infrastruktur ist oder ob eine externe Kontrollinstanz beim Fahren eingreifen können soll (vergleiche auch hierzu wieder die Statements [II]). Hierbei muss man aber auch darauf achten, ob die Forscher von vollautomatisiertem (Level 4) oder autonomen (Level 5) Fahren sprechen. Diese Frage könnte zum Beispiel wichtig sein für Einschätzung der Rolle von 5G für automatisches und autonomes Fahren oder für die Frage, ob und inwieweit Verkehrsschilder nebst Ampeln mit den Fahrzeugen kommunizieren können (müssen). Da scheint uns noch keine klare Linie vorhanden zu sein.

Die Redaktion des SMC hat folgende Fragen gestellt:

1. Worin bestehen derzeit die größten technischen Herausforderungen für automatisches oder autonomes Fahren und wie können die gelöst werden?

2. Wer macht international das Rennen – Waymo oder Tesla? Wie weit ist im Vergleich die europäische Forschung – und wie können Politik oder Behörden diese fördern?

3. Wie schätzen Sie den möglichen Nutzen einer herstellerübergreifenden Sammlung von (relevanten) Fahrdaten für die Forschung und Entwicklung ein? Inwiefern wäre eine internationale Zusammenarbeit zum Bespiel nach dem Vorbild der Medikamentenentwicklung sinnvoll?

4. Inwiefern ist vollkommen autonomes Fahren (Level 5) tatsächlich erreichbar? Welche Anpassungen dafür müsste wer an der Infrastruktur vornehmen – zum Beispiel strenger genormte Straßenmarkierungen, Mobilfunk- oder WLAN-Ausbau, präzisere Karten, präzisere Ortungssysteme, funkende Verkehrsschilder und so weiter?

5. Wie lange wird es realistisch dauern, bis die ersten hochautomatisierten (Level 4) oder auch autonomen (Level 5) Fahrzeuge auf dem Markt erscheinen? Werden das eher PKW sein, (Klein-)Busse, Robotertaxen oder LKW?


Übersicht

     

  • Prof. Dr. Philipp Slusallek, Wissenschaftlicher Direktor Agenten und Simulierte Realität, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI), Saarbrücken
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  • Prof. Dr. Markus Lienkamp, Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik, Technische Universität München (TUM), München
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  • Prof. Dr. Christoph Stiller, Leiter des Instituts für Mess- und Regelungstechnik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe
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  • Dr. Tobias Hesse, Abteilungsleiter Kooperative Systeme, Institut für Verkehrssystemtechnik, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin
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Statements der Experten zu den Fragen

1. Worin bestehen derzeit die größten technischen Herausforderungen für automatisches oder autonomes Fahren und wie können die gelöst werden?


Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Die größte technische Herausforderung liegt aktuell darin, dass wir für entsprechende KI-Systeme bisher nicht in der Lage sind, Garantien über ihr korrektes Verhalten beziehungsweise dessen Grenzen anzugeben. Das führt dazu, dass die Firmen zwar prinzipiell autonom Fahren können, sie aber hohe Risiken in Kauf nehmen müssten, wenn dann doch Unfälle passieren. Die Gefahr besteht, dass schnell die ganze Branche im Verruf steht, was wir mit dem Uber-Unfall ja schon gesehen haben. Danach wurde der Zeitpunkt zur Einführung von autonomem Fahren teilweise drastisch nach hinten geschoben und es sind etliche Firmen bankrott gegangen oder habe das Geschäft verkauft.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Die größten technischen Herausforderungen liegen in dem Umgang mit unterschiedlichen Umweltbedingungen. Eine große Herausforderung stellt hierbei die Schätzung des Reibwerts bei wechselnder Untergrundbeschaffenheit dar, weil die Kenntnis über den Kontakt zwischen der Straße und dem Fahrzeug zur Planung sowie Ausführung der autonomen Fahraufgabe essenziell ist. Eine weitere Herausforderung stellt die Wahrnehmung der Umgebung bei unterschiedlichen Wetter- (Schnee, Regen, Nebel) und Lichtverhältnissen (Nacht, Gegenlicht) dar. Dabei steht vor allem die Frage der Kombination verschiedener Sensortypen zur Wahrnehmung der Umgebung im Vordergrund. Neben der Umgebungswahrnehmung ist aber auch der Umgang mit verschiedenen Verkehrssituationen eine große technische Herausforderung. Ein wichtiger Aspekt dessen ist hierbei nicht nur die Interaktion mit verschiedenen Verkehrsteilnehmern, sondern auch die Berücksichtigung ethischer Grundsätze im Umgang mit diesen.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

„Seit den 90er Jahren wird an automatischen Fahrzeugen international geforscht. Dabei konnten bereits viele Herausforderungen erfolgreich gelöst werden. Beispielsweise können heute Erprobungsfahrzeuge mit Kameras, Lidar- und Radarsensoren die Fahrzeugumgebung erkennen. Das heißt, sie können in den Sensordaten die relevanten Objekte wie Fahrbahn, Bordsteine oder Ampeln und andere Verkehrsteilnehmende wie Fußgänger:innen, Radfahrer:innen oder andere Autos mit hoher Zuverlässigkeit wahrnehmen. Aufgrund dieser Information plant dann ein Fahrzeugrechner sinnvolle und vor allen Dingen sichere Bewegungsverläufe und steuert Motor, Bremse und Lenkung entsprechend an, sodass sich das Fahrzeug fahrerlos durch den Verkehr bewegt.“

„Trotz dieser beachtlichen Forschungserfolge gibt es noch eine Reihe verbleibender Herausforderungen, die nun von der Industrie mit Unterstützung der Wissenschaft angegangen werden.“

„Dazu gehören die weitere Steigerung der Zuverlässigkeit in der Wahrnehmung. Das Wesentliche in Verkehrssituationen muss – über die bloße Vermessung von Objekten hinaus – verstanden werden. Aufgrund eines Situationsverständnisses kann die Bewegungsplanung dann mögliche Entwicklungen vorherberechnen, um so kritische Situationen frühzeitig durch vorsichtige Fahrweise zu entschärfen.“

„Weiterhin sollten automatische Fahrzeuge sich anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber kooperativ verhalten. Gerade im Umgang mit anderen automatischen Fahrzeugen kann die Abstimmung von Fahrmanövern durch Fahrzeug-zu-Fahrzeug Kommunikation hier erheblichen Nutzen hinsichtlich Verkehrsfluss und -sicherheit schaffen.“

„Die aus meiner Sicht zentrale Herausforderung liegt im Nachweis hinreichender Sicherheit.Diese muss für alle Komponenten von der Lenkung bis zur Software und für das gesamte Fahrzeug nachgewiesen werden. Für eine Einführung eines automatischen Fahrzeugs in den öffentlichen Straßenverkehr sind natürlich hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen. Nach allem, was man dem heutigen Stand der Forschung entnehmen kann, ist es sehr wahrscheinlich, dass automatisches Fahren in einigen Jahren viel sicherer sein wird als unser heutiger Straßenverkehr. Insofern muss eine Zulassung verantwortungsbewusst vorangetrieben werden, denn sowohl eine verfrühte als auch eine verspätete Einführung kostet unnötig Menschenleben.“

Dr. Tobias Hesse

„Eine große Herausforderung bei der Entwicklung automatisierter Fahrzeuge ist der komplexe Verkehr. Erst wenn die Fahrzeuge alle anderen Verkehrsteilnehmer und Hindernisse sicher erkennen können, dürfen sie auf die Straße. Die Situationserkennung und -interpretation muss aber noch verbessert werden – hier kann künstliche Intelligenz helfen. Daraus ergibt sich gleich die Frage: Wie weisen wir nach, ob autonome Fahrzeuge wirklich sicher sind? Tests auf der Straße sind wichtig, aber reichen definitiv nicht aus. Das meiste muss in der Simulation erprobt werden. Daher hat die Entwicklung von Methoden zur effizienten Absicherung und Validierung momentan hohe Priorität.“

„Die nächsten wichtigen Schritte bestehen darin, aus vielen automatisierten Einzelfahrzeugen sowie unter Einbindung von Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsmanagementdiensten ein kooperatives System zu erschaffen. Das erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Verkehrseffizienz und lässt Menschen leichter am Verkehr teilnehmen. Vorteile eines solchen Systems sind die kooperative Erkennung von Situationen und Hindernissen, die einem Einzelfahrzeug verborgen sind, und kooperative Manöver, die sicherer sind und den Verkehr flüssiger machen. Eine gemeinsame, abgestimmte Kommunikation im Verkehr kann darüber hinaus verhindern, dass verschiedene Fahrzeuge widersprüchliche Signale an einen Fußgänger senden. So kann dieser sich sicher sein, wann er gefahrlos die Straße queren kann.“

2. Wer macht international das Rennen – Waymo oder Tesla? Wie weit ist im Vergleich die europäische Forschung – und wie können Politik oder Behörden diese fördern?


Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Waymo scheint technisch die Nase vorne zu haben, während Tesla viele Versprechungen macht, die meist nicht eingehalten werden können. Der von Tesla genutzte Begriff ‚Autopilot and Full Self-Driving Capability‘ ist dabei als geradezu fahrlässig anzusehen, da er eine Automatisierung des Fahrens vorgibt, die nicht erreicht wird. Wir sollten hier aber auch die deutschen Automobilfirmen nicht vergessen, die zwar deutlich zurückhaltender testen, aber auch durch große Forschungsprogramme und Kooperationen ein großes Know-How und breite Erfahrungen aufgebaut haben. Es ist zu erwarten, dass autonome Funktionen in Spezialbereichen (zum Beispiel auf der Autobahn) und auf abgegrenzten Strecken eingeführt werden und nicht gleich überall möglich sein werden.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Waymo präsentierte in jüngerer Vergangenheit große Fortschritte im autonomen Fahren. Generell sind die Ansätze amerikanischer und europäischer Unternehmen jedoch verschieden. Während sich amerikanische Unternehmen eher als Softwareunternehmen verstehen, agieren europäische Unternehmen als klassische Automobilhersteller. Dabei liegt der Fokus europäischer Hersteller auf dem hochautomatisierten Fahren (Level 3), wohingegen Waymo beispielsweise ein Level 4 System anstrebt. Das aktuelle Sensorsetup von Tesla eignet sich nach Einschätzung der Fachwelt nur für Level 2. Kürzlich erfolgte Unternehmensausgründungen deutscher Automobilunternehmen lassen auf eine zukünftig stärkere Software-Fokussierung schließen. Die unterschiedlichen Ziele der Hersteller begründen sich jedoch nicht ausschließlich in deren Unternehmensphilosophien, sondern auch in den unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Einsatz autonomer Fahrzeuge. Dieser gesetzliche Rahmen muss den Einsatz und damit die Entwicklung autonomer Fahrzeuge in Deutschland ermöglichen.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

„Während die etablierten Automobilhersteller automatisches Fahren allmählich durch schrittweise Verbesserung von Fahrerassistenzsystemen vorantreiben, haben sich vornehmlich in Asien und den USA Firmen aus dem Bereich der Informationstechnik aufgestellt, um disruptiv ein automatisches City-Taxi oder einen People-Mover einzuführen und damit den etablierten Herstellern die Marktposition streitig zu machen. Wer in diesem Rennen die Oberhand gewinnt, ist noch abzuwarten. In jedem Fall stellt die Automatisierung für die Automobilindustrie eine mindestens so große und existenzielle Herausforderung dar, wie die Elektrifizierung des Antriebs. Insofern ist ein Schulterschluss zwischen Politik, Forschung und Industrie aktuell wichtiger denn je.“

Dr. Tobias Hesse

„In Deutschland ist die Automobilindustrie stark und traditionell gut mit der Wissenschaft vernetzt. Dadurch ergeben sich innovative Projekte und Entwicklungen, die durch die Politik mittlerweile auch stark gefördert werden. Neue Unternehmen mit Stärken in der Softwareentwicklung wie Waymo oder Tesla haben in den vergangenen Jahren die Entwicklung neuer Funktionen und Fahrzeugtypen beschleunigt. Stärken deutscher und europäischer Hersteller liegen unter anderem im Bereich der Absicherung und des Nachweises von Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit von automatisierten und vernetzten Systemen. Gerade hier kommt der weiteren Förderung von Industrie und Forschung für neue Nachweisverfahren eine wichtige Rolle zu, um beispielsweise leistungsstarke und flexible Testfeldinfrastruktur – wie das Testfeld Niedersachsen – und neue Methoden weiterzuentwickeln und zu nutzen. Gleichzeitig sollten Vorhaben für deutschland- und europaweit skalierbare IT-Systeme wie Gaia-X und gemeinsame Datenräume verstärkt und genutzt werden. Auf dieser Basis müssen wir in die Erforschung des Verkehrs der Zukunft als koordiniertes kooperatives Verkehrssystem mit automatisierten vernetzten Fahrzeugen investieren.“

3. Wie schätzen Sie den möglichen Nutzen einer herstellerübergreifenden Sammlung von (relevanten) Fahrdaten für die Forschung und Entwicklung ein? Inwiefern wäre eine internationale Zusammenarbeit zum Bespiel nach dem Vorbild der Medikamentenentwicklung sinnvoll?


Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Hier bietet sich die Gelegenheit gerade für die deutschen Automobilfirmen, sich durch Kooperationen untereinander und mit der Forschung einen Vorsprung zu erarbeiten. Insbesondere geht es auch nicht nur um die Sammlung von aufgezeichneten Daten, sondern um den Aufbau von Modellen über den Straßenverkehr – zum Beispiel Bewegungen von Fußgängern und Fahrradfahrern, akkurate Umgebungsmodelle etc. – aus denen dann durch Simulationen beliebig viele und vor allem genau die notwendigen Daten generiert werden können. Eine solche ‚Digitale Realität‘ macht es perspektivisch auch möglich, die autonomen Fahrfunktionen gezielt zu testen und so zertifizieren zu können – quasi ein TÜV-Test für autonome Fahrzeuge.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Eine herstellerübergreifende Sammlung relevanter Fahrdaten ist nicht nur für die Entwicklung, sondern vielmehr auch für die Validierung autonomer Systeme extrem wichtig. Da autonome (Level 5) Fahrzeuge den Anspruch haben, in jeder Situation eine sichere Funktion zu gewährleisen, ist es wichtig, möglichst viele Szenarien bereits in der Entwicklung zu berücksichtigen. Viele Szenarien oder Konstellationen treten im Straßenverkehr jedoch extrem selten auf, weshalb alle Hersteller davon profitieren würden, möglichst viele dieser Szenarien miteinander zu teilen. Auch die Berücksichtigung verschiedener nationaler Verkehrssysteme bedarf der Erfassung von Fahrdaten in unterschiedlichen Regionen der Welt. Eine internationale Zusammenarbeit und das Teilen lokaler Fahrdaten würde also auch hierbei allen zugutekommen. Da mehr Daten generell die Entwicklung robusterer Algorithmen sowie eine umfangreichere Validierung ermöglichen, kann eine herstellerübergreifende Sammlung relevanter Fahrdaten zu sichereren Fahrzeugsystemen und schnelleren Entwicklungsprozessen führen. Aus diesem Grund setzen wir als Lehrstuhl auch darauf, unsere gesamte entwickelte Software als Open Source zu veröffentlichen.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

„Insbesondere sind Konzepte gefragt, wie wir herstellerunabhängig die Daten der Fahrzeugsensoren auswerten und zur Verbesserung künftiger Fahrzeuggenerationen verwerten. Die Analyse der Daten von kritischen Situationen, Beinaheunfällen und natürlich auch tatsächlichen Unfällen erlaubt die Verbesserung der verwendeten Methoden aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz. Einfach gesprochen sind hier relevante Daten der Schlüssel zu höherer Sicherheit. Hierbei wäre sogar eine internationale Zusammenarbeit anzustreben.“

Dr. Tobias Hesse

„Daten sind die Grundlage für das autonome Fahren und können in ihrem Wert nicht überschätzt werden. Es geht hier aber nur bedingt darum, möglichst viele Daten zu sammeln. Daten sind nur hilfreich, wenn sie zu qualitativ hochwertigen Informationen veredelt und für alle nutzbar sind. Wir engagieren uns daher stark in Plattformen wie der Plattform Lernende Systeme des BMBF, die auch gerade ein Positionspapier zum Thema Flottenlernen veröffentlicht hat [1]. Hier haben wir dargelegt, wie wir nur durch herstellerübergreifenden Austausch wirksam noch unbekannten Problemen begegnen können. Eine Öffnung solcher Daten seitens der Hersteller für die Forschung würde in der Zusammenarbeit zu einer deutlichen Beschleunigung von Weiterentwicklungen in Funktionalität und Methoden der Funktionsabsicherung führen.“

4. Inwiefern ist vollkommen autonomes Fahren (Level 5) tatsächlich erreichbar? Welche Anpassungen dafür müsste wer an der Infrastruktur vornehmen – zum Beispiel strenger genormte Straßenmarkierungen, Mobilfunk- oder WLAN-Ausbau, präzisere Karten, präzisere Ortungssysteme, funkende Verkehrsschilder und so weiter?


Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Alle diese Hilfsmittel können das autonome Fahren zwar verbessern, wo sie vorhanden sind. Das Ziel muss es aber sein, auch ohne solche Infrastrukturen sicher fahren zu können. Hier stellen sich durchaus noch große Herausforderungen an die heutige KI. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir hier noch einige Durchbrüche erwarten können. Nicht nur für das autonome Fahren brauchen wir KI-Systeme, die nachweisbar zuverlässig und akkurat ihre Aufgaben erfüllen können. Ohne diese Nachweisbarkeit werden KI-Produkte es in vielen sicherheitskritischen Bereichen schwer haben, das nötige Vertrauen durch die Anbieter und Nutzer zu erreichen, was letztlich den Markt zerstören würde. Hier bieten sich gerade für Deutschland und Europa große Chancen!“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Im Hinblick auf das autonome Fahren (Level 5) sollte der Fokus zunächst auf der Erfüllung der Fahraufgabe ohne Regeln liegen. Das Ziel ist die Entwicklung eines autonomen Systems zur Erfüllung der Fahraufgabe, nicht zur Erfüllung spezieller Regeln. Ähnlich dem Menschen, muss ein solches System in der Lage sein, mit anderen Verkehrsteilnehmern zu interagieren und zu kooperieren sowie komplexe Situationen jederzeit sicher zu bewältigen. Ein autonomes (Level 5) Fahrzeug muss demnach auch in einer Verkehrssituation ohne erkennbare Regeln oder bei einer Regelverletzung anderer Verkehrsteilnehmer eine sichere Funktion garantieren. Verkehrsregeln oder Infrastruktureinrichtungen können natürlich regulierend oder unterstützend hinzugezogen werden, der Fokus sollte zuerst aber auf der Entwicklung eines Systems zur grundlegenden Erfüllung der Fahraufgabe liegen.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

„Für die Einführung automatischer Fahrzeuge sind noch eine Reihe weiterer Aufgaben erforderlich, die in den Bereich staatlichen Handelns fallen. So sind Zulassungsverfahren für automatische Fahrzeuge abzustimmen und deren Betrieb zu überwachen. Digitale Karten des Straßennetzes sind erforderlich, deren Aktualität sichergestellt werden muss. Auch kann durch Verbesserung der Straßeninfrastruktur die Betriebssicherheit erhöht werden. Gute Straßenmarkierungen sowie die Funkübertragung von Ampeln und Verkehrszeichen seien hier als wesentliche Stichworte genannt. Nicht zuletzt enthalten unsere Verkehrsgesetze Normen mit Interpretationsbedarf. So ist beispielsweise ein ‚Verhalten, dass kein anderer geschädigt oder gefährdet … wird‘ für einen Computer – wie auch für Menschen – schwer umsetzbar. Nachvollziehbare explizite Abstands- und Geschwindigkeitsregeln wären für automatisierte Fahrzeuge zielführender. Als Übergang wäre die Erstellung eines Regelkatalogs denkbar, dessen Befolgung hinreichend für STVO-Konformität ist.“

Dr. Tobias Hesse

„Fahrerloses Fahren (Level 5) ist absolut erreichbar, allerdings zunächst vermutlich nicht in Form gewohnter, möglichst universell einsetzbarer Privat-Pkw, die alle Situationen auf allen Strecken Tür-zu-Tür beherrschen – also die tägliche Fahrt zum Sport genauso wie die Fahrt in den Urlaub in Frankreich. Deutlich realistischer ist die Einführung von fahrerlosen Fahrzeugen mit spezifischem Zweck und Einsatzgebiet, die wir privat nicht kaufen, sondern wo wir nur für die spezifische Nutzung bezahlen.“

„Wir glauben, dass autonomes Fahren nicht ohne Unterstützung der Infrastruktur geht. Entsprechende IT- und Telekommunikationsinfrastruktur ermöglicht die notwendige Vernetzung und Informationsbereitstellung, wie zum Beispiel von Verkehrsinformationen oder stets aktuellen digitalen Karten. Die lokale Ergänzung und Umgestaltung der Verkehrsinfrastruktur erleichtert die Einführung fahrerloser Fahrzeuge erheblich.“

„Beispielsweise kann die Vernetzung von Fahrzeugen mit Ampeln oder lokalen Sensoren an Unfallschwerpunkten deutlich die sichere Einführung beschleunigen. Wenn die Ergänzung der Infrastruktur das Betreiben von fahrerlosen Shuttles deutlich kostengünstiger macht, kann es für dessen Betreiber durchaus attraktiv sein, die Aufwertung der Infrastruktur in Absprache mit der Kommune auch selber vorzunehmen.“

5. Wie lange wird es realistisch dauern, bis die ersten hochautomatisierten (Level 4) oder auch autonomen (Level 5) Fahrzeuge auf dem Markt erscheinen? Werden das eher PKW sein, (Klein-)Busse, Robotertaxen oder LKW?


Prof. Dr. Philipp Slusallek

„Wie gesagt, haben alle Firmen ihre Programme zum produktiven Einsatz teilweise drastisch nach hinten verschoben oder stark eingeschränkt. Die Einführung wird nicht als komplett autonom fahrendes Auto passieren, sondern schrittweise mit anfangs sehr großen Einschränkungen, die nach und nach aufgehoben werden. Aber auch diese Zwischenschritte bieten schon große und interessante Businessmodelle an, die das Gebiet auch langfristig weiter befeuern werden.“

Prof. Dr. Markus Lienkamp

„Der Einsatz automatisierter Fahrzeuge wird zuerst dort erfolgen, wo ein klarer Kostenvorteil oder Kundennutzen realisierbar ist. Im Hinblick auf den Straßenverkehr lässt sich ein solches Geschäftsmodell vor allem im Nutzfahrzeugsektor identifizieren. So wäre beispielsweise die Verbindung zweier Logistikzentren mittels automatisierter LKW ein denkbares Szenario. Aber auch der Einsatz von Robotaxis oder automatisierten Bussen zur Personenbeförderung kann einen solchen Kundennutzen bieten. Hierbei stellt allerdings der Stadtverkehr – mit seinen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern – eine deutlich größere Herausforderung als der Autobahnbetrieb dar. Auch wenn Pilotprojekte bereits den innerstädtischen Verkehr automatisieren, wird die Automatisierung des Güterverkehrs einen entscheidenden nächsten Schritt in der Automatisierung von Fahrzeugen verkörpern.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

„Die Markteinführung wird durch die technische Leistungsfähigkeit aber auch durch die Schaffung dieser Rahmenbedingungen befördert beziehungsweise blockiert. Im günstigsten Verlauf kann ich mir automatische Citytaxis und Kleinbusse schon in gut fünf Jahren vorstellen, die in ausgewählten Gebieten zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen fahren. Zur Sicherheit sollte eine Leitzentrale den Betrieb engmaschig überwachen. Entsprechende Konzepte wurden in Forschungsprojekten wie UNICARagil [1] vorgestellt.“

Dr. Tobias Hesse

„Die Einführung hängt neben dem Nachweis der Sicherheit vor allem von realistischen Geschäftsmodellen ab, die die Einführung für alle Beteiligten attraktiv und wirtschaftlich macht. Die ersten vollautomatisierten Fahrzeuge im Regelbetrieb im Straßenverkehr werden vermutlich Nutzfahrzeuge sein, wo sich deutliche wirtschaftliche Vorteile ergeben und ein definiertes Einsatzgebiet die sichere Einführung erleichtert. Automatisierte LKW auf Autobahnen sind ein Szenario, das in absehbarer Zeit Realität werden könnte. Vielleicht werden schon in 10 Jahren Lastkraftwagen ohne Fahrer unterwegs sein – ohne Unfälle, ressourcenschonender und mit weniger Anfälligkeit für Staus. Autonome Fahrzeuge in der Stadt sind deutlich komplizierter einzuführen. Aber bei entsprechender Infrastrukturunterstützung und aufgrund der geringen Geschwindigkeiten sind auch fahrerlose Shuttles als Teil eines individualisierten öffentlichen Verkehrs in einigen Jahren zumindest auf bestimmten Teilnetzen und Strecken denkbar.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Philipp Slusallek: „Wir forschen selbst in dem Gebiet, ich sehe aber keine konkreten Gründe für einen Interessenkonflikt in dieser Sache.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten angegeben wurden

[1] Hesse T et al (2022): Potenziale für indstrieübergreifendes Flottenlernen. KI-Mobilitätsdatenplattform zur Risikominimierung des automatisierten Fahrens.

[2] UNICARagil: Das Projekt. Website.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung “Entwurf eines Gesetzes zu Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversicherungsgesetzes – Gesetz zum autonomen Fahren” (BT-Drs. 19/27439)

[II] Science Media Center (2021): Gesetzentwurf zum automatischen Fahren im Kabinett. Rapid Reaction. Stand 10.02.2021.

[III] SAE Standards News (2019): J3016 automated-driving graphic update. Für den vollständigen Text der J3016 Standard siehe: SAE International (2018): Taxonomy and Definitions for Terms Related to Driving Automation Systems for On-Road Motor Vehicles. Die Übersicht über die Level S. 19.