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29.10.2020

Desinformation bei der US-Wahl 2020

Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl steigt auf der ganzen Welt die Spannung. Neben der Frage, wer die Wahl gewinnen wird, stellt sich auch die Frage, inwiefern durch Desinformation Einfluss auf diese Wahl genommen wird.

Die sozialen Medien in den USA haben bereits reagiert: Facebook will einige Arten von Werbung sperren – kurz vor und nach der Wahl für alle Arten von Werbung über die Wahl, soziale Themen oder Politik [I]. Facebook hat auch eine durchsuchbare Datenbank von Werbung angelegt, die über Facebook oder Instagram ausgespielt wird [II]. Die Datenbank steht jedoch dafür in der Kritik, dass wichtige Informationen nicht angegeben werden und manche Werbeanzeigen dort nicht gefunden werden können. Ein Forschungsprojekt, das unabhängig Daten über Werbung auf Facebook sammeln möchte [III], versucht Facebook derzeit zu unterbinden [IV]. Außerdem versucht Facebook, in Partnerschaft mit unabhängigen Fact Checkern Desinformation und Falschmeldungen als solche zu kennzeichnen und deren Reichweite einzuschränken [V]. Auch Twitter hat bekanntgegeben, manipulierte und mit täuschender Absicht verbreitete Medieninhalte kenntlich zu machen [VI] sowie mögliche Falschinformationen zu kennzeichnen und auf zusätzliche Informationen hinzuweisen oder den entsprechenden Tweet ganz zu entfernen [VII]. Twitter sperrt politische Werbung außerdem grundsätzlich [VIII]. 

Zu dem kontroversen Thema der Desinformation ist aber noch immer vieles unklar. Zunehmende Polarisierung der Gesellschaft ist vielerorts zu spüren, nicht zuletzt in sozialen Medien. Doch bis zu welchem Grad kann Desinformation dafür verantwortlich gemacht werden und ab wann sind andere Faktoren relevant? Und was sind die Wirkungen?

Es erscheint plausibel, dass die großen Mengen polarisierender und schlichtweg falscher Meldungen eine Wirkung haben. Doch die kürzlich veröffentlichte Zusammenfassung [IV] zur Rolle von Cambridge Analytica bei der US-Wahl 2016 scheint den Einfluss der Firma auf das Wahlergebnis eher gering einzuschätzen und sieht keinen Einfluss bei den Wahlen zum Brexit. Wie weit diese Wirkungen gehen – Politikverdruss, Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft, das Abhalten bestimmter Gruppen vom Wählen oder sogar, dass Personen einen anderen Kandidaten wählen – ist also noch nicht abschließend geklärt.

Wir möchten mit diesen Einschätzungen von Experten einen generellen Überblick zu diesem Thema anbieten, damit deutlich wird, vor welchem Wissenshintergrund sich die aktuelle Debatte über Desinformation abspielt, welche Methoden bei der kommenden US-Wahl zu erwarten sind und was zum Beispiel Journalisten dagegen tun könnten.

Wir haben die folgenden Fragen gestellt:

1. Wie beurteilen Sie aktuell die Auswirkungen von politischen Desinformationskampagnen über digitale Medien? Was ist hierzu der Stand der Forschung und welche Erkenntnisse wurden seit der US-Wahl 2016 hinzugewonnen?

2. Welche Arten von Desinformation erwarten Sie zur US-Wahl im November? Gibt es Forschungsprojekte, die die Wahl genau beobachten werden, damit die Wirkung von Desinformation diesmal besser beurteilt werden kann als bei der US-Wahl 2016?

3. Was kann und was sollten welche Akteure gegen Desinformation tun? Für wie wirkungsvoll halten Sie die Ansätze der sozialen Medien in den USA? Und wie wirksam sind Anmerkungen zu Fact Checks unter Artikeln?

4. Welche praktischen Empfehlungen ergeben sich aus Sicht der Forschung für Journalistinnen und Journalisten im Umgang mit Desinformation?

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Axel Bruns, Professor für Medien- und Kommunikationsforschung, Digital Media Research Centre, Queensland University of Technology, Australien
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  • Dr. Philipp Müller, Akademischer Rat am Institut für Medien- und Kommunikations­wissenschaft, Universität Mannheim
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  • Prof. Dr. Cornelius Puschmann, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Kommunikation, Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung, Universität Bremen
    und Jan Rau, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, (Social) Media Observatory, Leibniz-Institut für Medienforschung │Hans-Bredow-Institut (HBI), Hamburg
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Statements der Experten zu den Fragen

1. Wie beurteilen Sie aktuell die Auswirkungen von politischen Desinformationskampagnen über digitale Medien? Was ist hierzu der Stand der Forschung und welche Erkenntnisse wurden seit der US-Wahl 2016 hinzugewonnen?
 

Prof. Dr. Axel Bruns

„In der Wahl 2016 lag der Fokus vor Allem auf Desinformationskampagnen, die von außen – besonders von Russland aus – gesteuert seien. Diese gab es auch durchaus, und Plattformen wie Facebook und Twitter haben seitdem viele tausende an Bots und anderen inauthentischen Accounts gelöscht. Dadurch ist jedoch auch klar geworden, dass solche Accounts eine deutlich geringere Rolle spielen als zunächst angenommen: Die authentischen, real existierenden Anhänger bestimmter politischer Akteure sorgen inzwischen für einen Großteil der Weiterverbreitung von Desinformationen.“

„Besonders seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten jedoch sind selbst solche Mechanismen nur noch von zweitrangiger Bedeutung: Das Amt gibt Trump und seinem Team eine unvergleichliche Medienplattform, von der sie Falschinformationen ungehemmt und nahezu ungebremst verbreiten können. Dazu kommt die Sicherheit, dass die Massenmedien diese Aussagen – so falsch sie auch sein mögen – nicht ignorieren können oder wollen, und die Aussagen vielfach ohne wirksame Korrektur berichten werden. Eine neue Studie der Harvard-Universität zu Trumps Behauptungen über angebliche Irregularitäten bei der Briefwahl hat das gerade wieder eindrücklich belegt [1].“

Dr. Philipp Müller

„Die Forschungslandschaft in diesem Bereich konsolidiert sich in zunehmendem Maße. Wir beginnen, die Inhalte und Wirkmuster von Online-Desinformation besser zu verstehen. Gleichzeitig gibt es erste Erkenntnisse über langfristige Entwicklungen, zum Beispiel hinsichtlich der Verbreitung von Desinformation. Insbesondere die Plattform Facebook scheint hier in den vergangenen Jahren, auch durch eine Zusammenarbeit mit Fact-Checking-Anbietern, Fortschritte gemacht zu haben. Studien aus den USA legen nahe, dass die Verbreitung von Falschinformationen über Facebook im Vergleich zu 2016 zurückgegangen ist.“

„Gleichzeitig sehen wir auch kulturelle Unterschiede. Im mitteleuropäischen Kontext scheinen offene Falschbehauptungen eine geringere Rolle in der Online-Propaganda rechtspopulistischer Bewegungen zu spielen. Stattdessen kommen hier subtilere Varianten zum Einsatz, zum Beispiel implizite Verschwörungsbehauptungen oder populistische Argumentationsweisen, die nicht durch Faktenchecks widerlegbar sind, weil es sich letztlich um Meinungsbekundungen und keine Tatsachbehauptungen handelt. Das ist den USA offenbar deutlich weniger subtil.“

Prof. Dr. Cornelius Puschmann und Jan Rau

„Digitale Medien und Desinformationen spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Polarisierung und Radikalisierung von politisierten Minderheiten und Extremisten. Digitale Medien spielen aber eine stark überschätzte Rolle bei der Beeinflussung von politischen Großereignissen wie Wahlen [1]. Andere Medien wie beispielsweise das Fernsehen sind da wichtiger.“

„Desinformationsmedien sind für die meisten Menschen lediglich eine Informationsquelle unter vielen. Einzelne Akteure – beispielsweise der US-Präsident – sind da wichtiger.“

„Strukturelle Faktoren wie Globalisierungsängste, Fremdenfeindlichkeit oder Individualisierungstendenzen dürfen zudem nicht unterschätzt werden und sind viel entscheidender [7].“

 

2. Welche Arten von Desinformation erwarten Sie zur US-Wahl im November? Gibt es Forschungsprojekte, die die Wahl genau beobachten werden, damit die Wirkung von Desinformation diesmal besser beurteilt werden kann als bei der US-Wahl 2016?
 

Prof. Dr. Axel Bruns

 

„Es ist bereits offensichtlich, dass derzeit eine Reihe von Desinformationen verbreitet werden; bis zum Wahltag wird sich das nur noch verstärken. Einerseits handelt es sich hier um Falschinformationen zur Corona-Pandemie und möglichen Schutzmaßnahmen (zum Beispiel zu Infektions- und Sterberaten, auch im Vergleich mit anderen Ländern; zur Wirksamkeit von Masken, Lockdowns, und angeblichen Wundermitteln wie Hydroxychloroquin oder Dexamethason; zur Verfügbarkeit von Impfstoffen wie dem von Trump noch vor der Wahl versprochenen Vakzin; und dazu noch zu einer Reihe von noch wilderen Verschwörungstheorien über die Ursprünge des Virus).“

„Andererseits verbreitet vor allem die Trump-Kampagne derzeit verstärkt Desinformationen über Joe Biden, sein Team, und seine Familie: Die neuesten Behauptungen, die Trumps Anwalt Rudy Giuliani mit Hilfe der New York Post derzeit über angeblich auf einem Laptop von Joe Bidens Sohn Hunter gefundene Emails verbreitet, erinnern stark an eine ähnliche Kampagne zu Hillary Clintons Emails im Jahre 2016. Schließlich gibt es noch den konzertierten Versuch, die Wahlen selbst in Zweifel zu ziehen: Hier werden besonders Desinformationen zur Sicherheit der Briefwahlen und zu den Modalitäten der eigentlichen Stimmabgabe verbreitet.“

„Bei der Beobachtung solcher Kampagnen sind einige Forschungsprojekte besonders bemerkenswert:

- Das US 2020 Dashboard der Factchecking-Organisation First Draft News bietet eine aktuelle Übersicht der wichtigsten Desinformationskampagnen und viele Links zu weiterführenden Ressourcen [2].

- Das Projekt Hoaxy an der Indiana University beobachtet in Echtzeit die Verbreitung von Desinformationen auf Twitter [3].

- Das Projekt Illuminating 2020 an der Universität Syracuse beleuchtet die Wahlanzeigen, die die Kampagnen auf Facebook schalten [4].

- Das Projekt Hamilton 2.0 der Alliance for Securing Democracy beobachtet besonders die Aktivitäten staatlich geförderter Medien in Russland, China, und Iran [5].“

Dr. Philipp Müller

„US-Wahlkämpfe sind traditionell stark personalisiert, sodass auch dieses Mal ein Schwerpunkt auf Versuchen der Diskreditierung des politischen Gegners liegt. Hier sehen wir, dass fragwürdige Informationen nicht nur von dritter Seite, sondern auch von den Kandidaten selbst gestreut werden, zum Beispiel Trumps wiederholte Skandalisierung der Geschäftsbeziehungen von Bidens Sohn. Er trifft diesbezüglich immer wieder Behauptungen, die sich nur schwer überprüfen lassen und potenziell falsch sein könnten. Aber auch Biden ist schon mit Falschbehauptungen aufgefallen, zum Beispiel über die Entwicklung der Außenhandelsbilanz mit China unter Trump. Insofern ist eine zentrale Beobachtung, dass die Verbreitung von Desinformation immer skrupelloser geschieht – das heißt, auch immer weniger auf abseitige Nischen des Internets angewiesen ist. Desinformation scheint inzwischen im Zentrum der politischen Kommunikationskultur der USA angekommen zu sein – eine Enttabuisierung, an der Trumps permanente Verbreitung von Unwahrheiten in den letzten Jahren natürlich einen gehörigen Anteil hatte, auf die die andere Seite nun aber auch einsteigt.“

Prof. Dr. Cornelius Puschmann und Jan Rau

„Die Studie des Bergman Klein Centers [1] fand heraus, dass Fox News und die eigene Wahlkampagne von Donald Trump viel mehr Einfluss bei der Verbreitung falscher Annahmen hatten als russische Desinformation oder Clickbait-Artikel auf Facebook. Daher kann man davon ausgehen, dass Desinformation zu US-Wahl ‚elite driven‘ (beispielsweise durch die Trump-Kampagne) und ‚mass media driven‘ verbreitet werden wird.“

 

3. Was kann und was sollten welche Akteure gegen Desinformation tun? Für wie wirkungsvoll halten Sie die Ansätze der sozialen Medien in den USA? Und wie wirksam sind Anmerkungen zu Fact Checks unter Artikeln?


Prof. Dr. Axel Bruns

„Die wachsende Bereitschaft der wichtigsten Plattformen, problematische Inhalte mit Warnungen zu versehen oder sogar ganz zu löschen, ist grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung. Twitter zum Beispiel hat bekanntlich einen Tweet Donald Trumps zu angeblichen Briefwahlproblemen als Falschinformation gekennzeichnet, sowie einen Tweet ganz entfernt, in dem Trumps medizinischer Berater Scott Atlas fälschlich behauptete, Masken würden nicht vor einer Weiterverbreitung des Virus schützen. Facebook hat ebenfalls viele problematische Posts so behandelt, dass Nutzer sich erst durch Warnmeldungen klicken müssen, bevor sie die Inhalte sehen. Beide Plattformen haben außerdem auch wiederholt die Löschung einer großen Zahl von inauthentischen (‚fake‘) Accounts verkündet, die für bestimmte politische Richtungen Stimmung gemacht und Desinformationen weiterverbreitet haben.“

„Jedoch ist der Erfolg solcher Maßnahmen eher beschränkt. Eingefleischte Unterstützer von Verschwörungstheorien werden derlei Gegenmaßnahmen eher als ein Zeichen sehen, dass ‚das Establishment‘ sie wirklich auszugrenzen sucht, und ihre Bemühungen daher eher noch verstärken. Die Medienberichterstattung zu Warnungen und Löschungen trägt ebenfalls eher dazu bei, die Inhalte der so gekennzeichneten Posts noch deutlich weiter zu verbreiten als das ursprünglich der Fall gewesen wäre. Und viele der von den Plattformbetreibern getroffenen Maßnahmen scheinen eher so kalkuliert zu sein, dass sie maximale Medienwirkung zeigen, als dass sie das Problem der Desinformationen wirklich wirksam bekämpfen. Facebook ist hier besonders hervorzuheben: Es reagiert mit seinen Aktionen meist erst auf Medienkritik, anstatt proaktiv problematischen Informationen zu begegnen; auch wenn durch die Plattform von Zeit zu Zeit ein publikumswirksames Exempel statuiert wird, so zirkulieren Desinformationen doch, weniger sichtbar, weiter ungehemmt in nichtöffentlichen Facebook-Gruppen.“

„Freilich sind diese begrenzten Maßnahmen wohl dennoch wenigstens dazu geeignet, eher wenig an politischen Inhalten interessierte Nutzer davor zu beschützen, in großem Maße mit Desinformationen in Kontakt zu kommen. Insgesamt müssen also zwei Zielgruppen unterschieden werden: politisierte Teilnehmer, für die die Gegenmaßnahmen der Plattformen eher noch Interesse wecken werden und die solche Maßnahmen sicher auch leicht werden umgehen können; und Politikverdrossene, die durch die Warnungen von weiterer Befassung abgehalten werden. Falls deren allgemeiner Politikverdruss allerdings durch die Wahrnehmung solcher Probleme sogar noch gesteigert wird, ist dies aus demokratietheoretischer Sicht ebenfalls wenig wünschenswert.“

Dr. Philipp Müller

„Ich komme auf der Basis der vorhandenen Forschung zur Wirkung von Desinformation zu dem Schluss, dass jede Form der Weiterverbreitung einer als Falschinformation erkannten Nachricht schädlich sein kann. Die Wirkungen von Warnhinweisen und Aufklärungsbotschaften sind gerade innerhalb der eigentlichen Zielgruppe solcher Hinweise – nämlich derjenigen, die eine unwahre Botschaft im Prinzip plausibel finden – eher gering. Zudem wird die Falschinformation dadurch vervielfältigt, sodass andere potenziell zum ersten Mal mit ihr in Kontakt kommen.“

„Aus der Psychologie wissen wir, dass es Erinnerungseffekte gibt, die dazu führen können, dass Menschen sich nach einer gewissen Zeit zwar daran erinnern können etwas ‚schon einmal gehört‘ zu haben, aber dabei vergessen, dass es sich eigentlich um eine Falschinformation gehandelt hat. Insofern ist es effektiver, die Verbreitung von Desinformation zu unterbinden, als zu versuchen, durch Aufklärungshinweise ihre Wirksamkeit einzuschränken.“

„Daher ist es aus meiner Sicht ein zentraler Ansatz bei der Bekämpfung von Online-Desinformation durch die Plattformen, dass derartige Inhalte von den Algorithmen erkannt werden und Nutzer*innen dann nicht mehr in ihren Newsfeeds angezeigt werden. Das finde ich noch wichtiger als das Löschen von Inhalten, das immer auch dazu führen kann, dass hier ein Zensurvorwurf erhoben wird. Wichtiger ist, dass die Inhalte von den Plattformen nicht zusätzliche Aufmerksamkeit durch eine prominente Platzierung erhalten. Das versuchen Facebook und Twitter auch bereits und sind dabei auf jeden Fall erfolgreicher als 2016.“

„Das komplette Unterbinden politischer Werbung durch die Plattformen werte ich als Verzweiflungstat, um das eigene Image zu retten. Es zeigt uns, dass es den Plattform-Betreibern nur sehr schwer möglich ist, zwischen legitimen und korrekten Werbebotschaften und problematischen zu unterscheiden. Hier stoßen sie offensichtlich an ihre Grenzen. Wenn man das zu Ende denkt, könnte man generell hinterfragen, wie sinnvoll es ist, politische Diskurse über Social-Media-Plattformen in der Form zu führen, wie wir es derzeit tun.“

„Eine solche Diskussion könnte natürlich für die Plattformen existenzgefährdend werden. Deswegen versuchen sie mit allen Mitteln, diese Diskussion nicht aufkommen zu lassen. So erklärt sich aus meiner Sicht das Werbeverbot, welches, von der Wirkungsseite aus betrachtet, aber sicherlich nicht sinnlos ist. Potenziell schädliche Wirkungen werden so natürlich eingedämmt. Generell würden wir uns als Sozialforscher*innen natürlich wünschen, dass Menschen ihre Wahlentscheidung möglichst unbeeinflusst von politischer Werbung treffen.“

Prof. Dr. Cornelius Puschmann und Jan Rau

„Wir brauchen eine wirkungsvolle Regulierung von Tech Konzernen. Dazu zählt Transparenz: besserer Datenzugang für unabhängige Forschung [8] ‚universal advertising transparency‘ anstatt Facebooks politischer ad library [9] und effektive Methoden zur Überprüfung von Algorithmen [8]. Darüber hinaus braucht es außerdem eine ganzheitliche Regulierung: beispielsweise durch die Einführung einer unabhängigen Regulierungsbehörde, die Leitlinien für Plattformen erstellt und die Einhaltung dieser überwacht, sowie Online-Staatsanwälte und Online-Gerichte. Dabei ist wichtig, dass potenzieller Schaden (‚harm‘) adressiert werden muss, während gleichzeitig Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Privatsphäre weiterhin geschützt werden.“

 

4. Welche praktischen Empfehlungen ergeben sich aus Sicht der Forschung für Journalistinnen und Journalisten im Umgang mit Desinformation?


Prof. Dr. Axel Bruns

„Zunächst einmal sollten Desinformationen nicht relativiert werden. Falsches muss ganz klar als falsch, Lügen ganz klar als Lügen dargestellt werden, ohne aus einem missverstandenen Sinn für Objektivität und Balance die Statements der Desinformierer detailliert mitzutransportieren. Zudem stellt sich auch die – oft durchaus schwierige – Frage, ob selbst eine kritische Berichterstattung über Desinformationskampagnen diesen nicht eine deutlich weitere Reichweite verschafft, als sie alleine erreichen könnten. Auch wenn es der natürliche Instinkt von JournalistInnen ist, über kontroverse und sensationelle Themen zu berichten, so sollten sie sich hier fragen (und viele tun dies auch), ob es nicht eher im Interesse des Publikums ist, wenn gefährliche Desinformationen totgeschwiegen werden, anstatt sensationell ausgeweidet zu werden. Dies ist eine Frage nach der gesellschaftlichen und demokratischen Verantwortung des Journalismus und der Rangstellung dieser Verantwortung im Vergleich zu kommerziellen Imperativen.“

„In diesem Zusammenhang muss es den JournalistInnen noch deutlich klarer werden, dass die Verbreiter von Desinformationen es zumeist nur sekundär darauf abgesehen haben, von Normalverbrauchern in den sozialen Medien weiterverbreitet zu werden: Ein sehr viel wichtigeres Ziel für sie ist stattdessen, ihre Inhalte in die Berichterstattung der Massenmedien zu insertieren und dadurch als seriöser erscheinen zu lassen. Die Betreiber solcher Kampagnen mögen abstruse politische Vorstellungen vertreten – ihr Medienverständnis aber ist oft sogar sehr viel besser entwickelt als das der JournalistInnen selbst, die über sie berichten. Solche Akteure wissen genau, wie sie ihre Inhalte in größtem Maße medienwirksam lancieren müssen und sehen die Massenmedien dabei als nützliche Idioten, die in ihrem Sinne manipuliert werden können. Leider ist diese Sicht der Dinge zumindest in den USA, aber sicher auch in vielen anderen Ländern nachweislich korrekt.“

„Falls Desinformationsverbreiter nicht einfach ignoriert und totgeschwiegen werden können, so benutzen sie in ihrer Medienarbeit oft auch eine Strategie der Überrumpelung, den sogenannten ‚Gish gallop‘ [6], in dem – wie das Beispiel Trump eindrucksvoll demonstriert – so schnell so viele Unwahrheiten präsentiert werden, dass die kritische Berichterstattung nicht mehr hinterherkommen kann. Hier ist es in der journalistischen Arbeit wichtig, so schnell und so oft nachzuhaken wie nur irgend möglich, was JournalistInnen ein tiefes Verständnis der aktuellen Informationslage abverlangt. Desinformierer tun ihr Unwesen vor Allem in der Zeitspanne zwischen Falschinformation und Korrektur – je mehr diese dadurch reduziert werden kann, dass JournalistInnen die korrekten Informationen sofort parat haben und den Desinformierer damit konfrontieren können (in der Pressekonferenz, im Interview, im Umgang auf sozialen Medien, in der Reportage), desto effektiver kann ihnen begegnet werden.“

Dr. Philipp Müller

„Ich denke für Journalist*innen gilt Ähnliches wie für die Plattformen, wenn es um das Aufgreifen von Desinformation geht. Aufklärungsartikel sollten aus meiner Sicht eher zurückhaltend verwendet werden, weil sie potenziell zur weiteren Verbreitung von Falschbehauptungen und Verschwörungsmythen beitragen könnten. Das ist natürlich ein schmaler Grat. Selbstverständlich ist es wichtig, dass Journalist*innen beispielsweise über die Existenz der QAnon-Bewegung berichten und darüber aufklären. Dies sollte allerdings möglichst sachlich geschehen, ohne das Problem zu emotionalisieren oder zu sehr zu dramatisieren.“

„Eher spekulative Aussagen – zum Beispiel über die Größe der Anhängerschaft einer solchen Bewegung oder die Wirksamkeit ihrer Behauptungen – halte ich für eher problematisch. In der Regel überschätzen sie die Gefahr. Auch die Inhalte selber sollten nach Möglichkeit nicht im Einzelnen aufgegriffen und durchdiskutiert werden. Klar ist es journalistisch verlockend, Details aus online kursierenden Verschwörungsmythen aufzugreifen und womöglich ins Lächerliche zu ziehen. Letztlich kann das den Autor*innen der Inhalte jedoch nur nutzen bei der Erreichung ihrer Ziele.“

„Soweit es geht, sollten die Falschbehauptungen also ignoriert werden, nicht jedoch die Tatsache, dass es eine Community gibt, die diese Falschbehauptungen verbreitet und ein entsprechendes Publikum findet. Der etablierte Journalismus täte der Gesellschaft den besten Dienst, wenn er die Verbreitung von Falschmeldungen zum Anlass nehmen würde, um zu hinterfragen, weshalb offenbar eine wachsende Bevölkerungsgruppe unzufrieden mit der Gesellschaftsordnung und daher empfänglich für entsprechende Falschinformationen ist. Die Analyse zu Grunde liegender gesellschaftlicher Fehlentwicklungen sollte also den Schwerpunkt journalistischer Arbeit ausmachen.“

Prof. Dr. Cornelius Puschmann und Jan Rau

„Hierzu zwei Beispiele: Die ‚5 Lessons for Reporting in an Age of Disinformation‘ von Claire Wardle [10] und die ‚Recommendations for Media Covering the 2020 U.S. Presidential Election‘ des Election Coverage and Democracy Network [11].

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Philipp Müller: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Benkler Y et al. (2020): Mail-In Voter Fraud: Anatomy of a Disinformation Campaign. Berkman Center Research Publication No. 2020-6.

[2] First Draft (2020): US 2020 Dashboard: Live insights on information disorder.

[3] Hoaxy (o.J.): Popular Articles.

[4] Illuminating (o.J.): Homepage.

[5] Alliance for Securing Democracy (o.J.): Hamilton 2.0 Dashboard.

[6] Wikipedia (o.J.): Gish gallop.

[7] Rau J et al. (08.01.2019): Willkommen im Zeitalter digitaler Gegenöffentlichkeiten. Gastbeitrag auf Hamburger-Wahlbeobachter.de

[8] Algorithm Watch (09.09.2020): Our response to the European Commission’s planned Digital Services Act.

[9] Algorithm Watch (08.09.2020): AlgorithmWatch joins call for ‘Universal Advertising Transparency by Default’.

[10] Wardle C (27.12.2018): 5 Lessons for Reporting in an Age of Disinformation. First Draft.

[11] Election Coverage and Democracy Network (o.J.): Recommendations for Media Covering the 2020 U.S. Presidential Election.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Facebook for Business: Prohibited Ads About Social Issues, Elections or Politics in the United States and Information on the 2020 Restriction Period.

[II] Facebook: Ad Library. Eine durchsuchbare Datenbank „aller Werbeanzeigen, die aktuell über Facebook-Apps und -Dienste (einschließlich Instagram) ausgeliefert werden.“

[III] NYU Tandon School of Engineering: Ad Observatory.

[IV] Horwitz J (23.10.2020): Facebook Seeks Shutdown of NYU Research Project Into Political Ad Targeting. The Wall Street Journal (Paywall).

[V] Facebook for Business: Fact-Checking on Facebook.

[VI] Roth Y et al. (04.02.2020): Building rules in public: Our approach to synthetic & manipulated media. Twitter Blog.

[VII] Roth Y et al. (11.05.2020): Updating our approach to misleading information. Twitter Blog.

[VIII] Twitter for Business: Political content.

[IV] Denham E (02.10.2020): Letter from the Information Commissioner. Information Commissioner’s Office.

Weitere Recherchequellen

Horwitz J et al. (25.10.2020): Facebook Prepares Measures for Possible Election Unrest. The Wall Street Journal (Paywall).

Science Media Center Germany (2020): Medienkompetenz gegen Falschinformationen. Research in Context. Stand: 22.06.2020.

Science Media Center Germany (2020): Alternative Medien auf Facebook im Kontext von COVID-19. Rapid Reaction. Stand: 09.04.2020.

Science Media Center Germany (2020): Fake News Webseiten vor US-Wahl 2016 wenig besucht. Research in Context. Stand: 02.03.2020.

Science Media Center Germany (2019): Beeinflussung politischer Meinung durch die IRA auf Twitter Ende 2017. Research in Context. Stand: 25.11.2019.

Science Media Center Germany (2019): EU-Wahl: Gehen Facebook, Google und Twitter ausreichend gegen Desinformation vor? Rapid Reaction. Stand: 17.05.2019.

Science Media Center Germany (2019): Desinformation vor der Europawahl – Wie groß ist die Gefahr? Press Briefing. Stand: 12.04.2019.

Science Media Center Germany (2019): Fake News auf Twitter bei der US-Präsidentschaftswahl 2016. Research in Context. Stand: 24.01.2019.