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24.09.2018

Querschnittsgelähmter läuft Schritte mit Rückenmark-Stimulation

„Ein Patient mit kompletter Lähmung der unteren Gliedmaßen kann wieder selbstständig gehen, nachdem er eine Kombination aus elektronischer Rückenmark-Stimulation und Rehabilitationstherapie erhalten hat.“ So kündigt das Fachjournal „Nature Medicine“ eine wissenschaftliche Publikation von Forschern der US-amerikanischen Mayo Clinic an, die soeben erschienen ist (siehe Primärquelle).Auch wenn dies nach einer Sensationsmeldung klingt: Für die Forschung – und somit perspektivisch auch für die Behandlung von Querschnittsgelähmten in der Praxis – ist dies wohl nur ein kleiner Fortschritt.Bei dem Patienten handelt es sich um einen jungen Mann, der eine schwere Rückenmarksverletzung erlitten hatte; seine Beine waren „komplett sensomotorisch gelähmt“. Zunächst erhielt er im Laufe von 22 Wochen 61 Einheiten Laufbandtraining. Währenddessen wurde festgestellt, dass die Rückenmarksverletzung doch nur „diskomplett“ war, das Rückenmark also nicht völlig durchtrennt. Dann bekam der Patient einen Neurostimulator mit 16 Kontaktelektroden am Rückenmark implantiert und absolvierte anschließend 43 Wochen lang ein intensives Rehabilitationstraining mit 113 Trainingseinheiten in der Klinik sowie 72 Trainingseinheiten zu Hause. Daraufhin konnte er während einer einzelnen Trainingseinheit mit der epiduralen Elektrostimulation bis zu 331 Schritte und bis zu 102 Meter laufen – allerdings mit Hilfe eines Rollators sowie mit Unterstützung durch Therapeuten. Anfangs assistierten drei Therapeuten: eine Person, um bei einem Schritt das Standbein stabil zu halten; eine Person, um den Schwung des Schrittbeines zu unterstützen; eine Person, um die Hüfte zu halten und so die Gewichtsverlagerung und die Balance zu unterstützen. In der 43. Trainingswoche waren nur noch ein Rollator und ein Hüft-Assistent nötig, berichtet das Team um Kendall Lee und Reggie Edgerton. Zeitgleich wurde außerdem eine zweite Studie publiziert: von einer anderen Arbeitsgruppe und in einem anderen Journal, nämlich vom „New England Journal of Medicine“. Hier berichtet die Arbeitsgruppe von Claudia A. Angeli und Susan J. Harkema über vier Querschnittsgelähmte, die mit elektrischer Stimulation am Rückenmark und intensivem Training wieder gehen können sollten. Alle vier haben es geschafft, selbstständig zu stehen und den Rumpf stabil zu halten – aber nur, wenn der Neurostimulator angeschaltet war. Nur zwei von ihnen ist es gelungen, mit Hilfe der epiduralen Elektrostimulation einige Schritte über einen ebenen Grund zu gehen. Eine Person der beiden Letztgenannten hatte sich beim Training einen Oberschenkelhals gebrochen (Hüftfraktur).

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Jocelyne Bloch, Professorin für Neurochirurgie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne
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  • Prof. Dr. Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg
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Statements

Prof. Dr. Jocelyne Bloch

Professorin für Neurochirurgie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne

„Dieser Patient ist nicht der erste, der mit Hilfe elektrischer Rückenmark-Stimulation für eine Querschnittslähmung behandelt wurde [1] [2].“

„Der hier beschriebene Patient hat 43 Wochen lang ein intensives Rehabilitationsprogramm absolviert und konnte dann wieder mit Stimulation und viel Hilfe ein paar Schritte gehen. Trotzdem bin ich nicht allzu enthusiastisch. Es handelt sich um die Forschungsergebnisse mit einem einzelnen Patienten. Seine Bewegungen sind nicht besonders funktional: Er kann mit viel Hilfe ein paar Schritte gehen – aber es gab keine neurologische Heilung. Doch im Labor einige Schritte zu tun, bedeutet nicht, dass das auch zu Hause und im Alltag klappt und das Leben verändert. Wir sollten also wortwörtlich einen Schritt zurücktreten und die Ergebnisse in der Realität betrachten.“

„Die elektrische Stimulation hilft dem Patienten, die Rehabilitationsübungen durchzuführen und zu trainieren.”

„Bei Tierversuchen hat man festgestellt, dass Trainieren mit der Rückenmark-Neurostimulation dazu führen kann, dass einige Nervenfasern im Hirnstamm und in der Wirbelsäule anfangen zu sprießen.“

„Es ist kein Geheimnis, dass das Team der Mayo-Klinik und unsere Gruppe im selben Bereich arbeiten und forschen [3] [4]. Es gibt auch noch weitere Arbeitsgruppen, die sich mit der Elektrostimulation des Rückenmarks bei Patienten mit Querschnittslähmung beschäftigen. Wir verfolgen unterschiedliche Ansätze. Auch wenn ich also nicht allzu sehr davon überzeugt bin, dass dieser eine Patient die Erfolgsmeldung ist: Von der Methode der Neurostimulation bin ich überzeugt.“

Prof. Dr. Norbert Weidner

Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg

„Eine ganz wichtige Feststellung ist: Der Letter beschreibt einen einzigen Fall! Es ist schon lange bekannt, dass bei einem Teil der funktionell ‚komplett’ Querschnittgelähmten trotz fehlender Willkürmotorik und komplettem Ausfall aller sensiblen Funktionen (Schmerz, Temperatur, Berührung) noch intakte Nervenbahnen im Rückenmark über die Verletzungsstelle vorhanden sein können. Man geht davon aus, dass diese wenigen erhalten gebliebenen Nervenbahnen nicht in der Lage sind, sichtbare sensomotorische Funktionen unterhalb der Rückenmarksverletzung zu erhalten, sprich: den sogenannten Spinal Pattern Generator unterhalb der Rückenmarksverletzung wieder so zu aktivieren, dass er Steh- und Gehbewegungen steuert.“

„Zur Historie: Reggie Edgerton hat das Prinzip des ‚task oriented training’ und im weiteren Verlauf die Elektrostimulation des Rückenmarks verfolgt. Susan J. Harkema und Grégoire Courtine waren beide wissenschaftliche Mitarbeiter in seinem Labor. Courtine hat das Prinzip per Publikation nur am Tierexperiment weiterentwickelt; klinische Studien (mit Menschen; Anm. d. Red.) laufen hier aktuell, sind aber noch nicht veröffentlicht. Harkema zeigte 2011 an einem Patienten, damals als Mitarbeiterin von Edgerton, dass die Willkürmotorik bei einem Patienten durch Elektrostimulation und Training wiedergewonnen werden konnte [5]. Dann zeigten Angeli et al. [6], jetzt in der eigenständigen Arbeitsgruppe von Harkema, dass mit nämlichem kombinierten Therapieansatz aus Elektrostimulation und Training die Willkürmotorik und Stehfunktion (letztere mit therapeutischer Hilfestellung und Gehbock) bei drei weiteren Patienten wiedergewonnen werden konnte. In den vergangenen Jahren konnten Arbeiten von den Arbeitsgruppen um Edgerton und Harkema also zeigen: Mit epiduraler Elektrostimulation im Bereich des Pattern Generators in Kombination mit funktionsorientiertem Training kann man die Gehfunktion in sehr beschränktem Umfang wiedererlangen, das heißt mit Körpergewichtsentlastung, Gehen auf Laufband, Orthesen (Prothesen, die bei Funktionsausfällen der Extremitäten oder der Wirbelsäule stützt; Anm. d. Red.) im Bereich der Beine, zusätzlicher erheblicher Assistenz durch Therapeut. Die genannten Studien bezogen sich bisher ebenfalls nur auf einzelne oder wenige Fälle. Die aktuelle Studie zeigt darüber hinaus erstmals, dass ein Patient nach intensivem funktionsorientiertem Training sowie epiduraler Elektrostimulation mit vergleichsweise wenig Assistenz durch Therapeut und Rollator über einen ebenen Grund eine gewisse Distanz zurücklegen kann.“

„Die aktuelle Arbeit von Gill et al. zeigt nun einen weiteren Einzelfall nach intensivem funktionsorientiertem Training mit begleitender epiduraler Elektrostimulation über den sehr langen Zeitraum von 43 Wochen. Gemäß der Beschreibung der Ergebnisse (Videos standen zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen leider nicht zur Verfügung) konnte der Proband mit sehr viel weniger Unterstützung – keine Körpergewichtsentlastung, geringe Stabilisierung der Hüften durch Therapeuten, Benutzung eines Rollators – eine Gehstrecke von 100 Metern (best of!) zurücklegen. Die beste Gehgeschwindigkeit wird mit 0,2 Meter pro Sekunde angegeben – eine vernünftige, im Alltag relevante Gehgeschwindigkeit fängt bei 0,5 Metern pro Sekunde an.“

„Insgesamt zeigen diese Resultate ein etwas verbessertes Potenzial des kombinierten Ansatzes (Elektrostimulation plus funktionsorientiertes Training) und stellen definitiv ein interessantes Ergebnis dar, nämlich einen Proof of Principle (Grundsatzbeweis, Machbarkeitsnachweis; Anm. d. Red.). Allerdings ist bei der immer noch sehr eingeschränkten Gehfähigkeit nicht davon auszugehen, dass der Proband die wiedererlangte limitierte Gehfunktion in relevantem Umfang in den Alltag übertragen wird. Insbesondere wenn das intensive funktionsorientierte Training nach Beendigung der Studienteilnahme nicht mehr aufrechterhalten werden kann, ist zu befürchten, dass die Gehfunktion wieder deutlich abnehmen wird oder der Proband komplett auf den Rollstuhl zurückgreifen wird.“

„Kurz zusammengefasst: Der Proof of Principle ist sehr interessant, die Lücke zur Alltagsrelevanz ist noch (zu) groß. Und sehr wahrscheinlich wird nur bei einer relativ geringen Teilmenge von Querschnittgelähmten ein derartiger Behandlungserfolg zu erzielen sein.“

„Nun kann man natürlich sagen: Das ist erst der Anfang; die Technologie kann noch weiterentwickelt werden. Das Problem ist jedoch, dass die wenigen noch erhaltenen Nervenbahnen, welche Gehirn und Rückenmark unter der Verletzung verbinden, sich durch einen derartigen Ansatz nicht vermehren werden. Vermehrte Regeneration zusätzlicher Nervenbahnen ist hier zwingend notwendig, um tatsächlich robuste alltagsrelevante Verbesserungen erzielen zu können.“

„Wie bereits erläutert, bezieht sich der Begriff ‚vollständige Lähmung’ auf die klinische Untersuchung der sensiblen und motorischen Funktionen. Zeigt der Patient keinerlei derartige Funktionen unterhalb des Verletzungsniveaus, spricht man von ‚vollständig’ oder ‚komplett’. Das heißt aber nicht, dass nicht doch noch Nervenbahnen über die Verletzung hinweg bestehen bleiben können – das nennt man im Fachjargon ‚dyskomplett’ anstatt ‚inkomplett’.“

„Wie erwähnt, haben bereits mehrere Arbeiten entsprechende Effekte gezeigt. Was auch gezeigt werden konnte: dass die Willkürmotorik nach Abstellen der Elektrostimulation deutlich schlechter oder gar nicht mehr vorhanden ist. Wenn man dann die Stimulation wieder einschaltet, zeigt sich sofort, dass der Patient willkürlich die gelähmten Muskeln wieder ansteuern kann. Man stellt sich das so vor: Die Elektrostimulation erzeugt lediglich die prinzipielle Bereitschaft des Rückenmarks unterhalb der Verletzung, wieder auf bewusste ansteuernde Reize aus den wenigen verbliebenen Nervenbahnen zu reagieren. Die intensive funktionsorientierte Rehabilitation gewährleistet, dass diese Ansteuerung über verbliebene Nervenbahnen auch tatsächlich durch den Patienten genutzt wird. Er muss bewusst und aktiv und häufig am Training teilnehmen.“

„Der Begriff ‚Heilung’ ist hier definitiv nicht angebracht. Es wird dem Patienten tatsächlich verlorengegangene Willkür-Funktion zurückgebracht, allerdings nur in höchst eingeschränktem Umfang. Wichtig ist an dieser Stelle auch zu verstehen, dass zwar die motorische Funktion wieder in eingeschränktem Umfang angekurbelt wird, jedoch die sensible Rückkoppelung über die Stellung der Beine im Raum unverändert komplett fehlt. Allein durch die fehlende sensible Rückkoppelung wird die Gehfunktion trotz maximaler Nutzung der beschriebenen Therapieansätze höchst eingeschränkt bleiben.“

„Die epidurale Elektrostimulation allein wird bei komplett Gelähmten keine alltagsrelevante Gehfunktion zurückbringen. Hier wären Kombinationen mit regenerativen Therapieansätzen notwendig, sobald diese zur Verfügung stehen. Bei inkomplett Querschnittgelähmten, also mit erhaltener Restfunktion unterhalb der Verletzung, sehe ich mittels epiduraler Elektrostimulation ein deutlich größeres Potenzial. In diesen Fällen bleiben sehr viel mehr Nervenbahnen erhalten, die einen durch Elektrostimulation aktivierten Pattern Generator sehr viel besser steuern und kontrollieren können. Außerdem ist bei den inkomplett Gelähmten auch die sensible Funktion zumindest zum Teil erhalten, was ebenfalls wichtig für die Gehfunktion ist.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine angegeben.

Primärquellen

Gill ML et al. (2018): Neuromodulation of lumbosacral spinal networks enables independent stepping after complete paraplegia. Nature Medicine. DOI: /10.1038/s41591-018-0175-7. 

Angeli CA et al. (2018): Recovery of Over-Ground Walking after Chronic Motor Complete Spinal Cord Injury. N Engl J Med; 379: 1244-1250. DOI: 10.1056/NEJMoa1803588. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Rejc E et al. (2017): Motor recovery after activity-based training with spinal cord epidural stimulation in a chronic motor complete paraplegic. Sci Rep; 7 (1): 13476. DOI: 10.1038/s41598-017-14003-w. 

[2] Behrman AL (2017): Activity-Based Therapy: From Basic Science to Clinical Application for Recovery After Spinal Cord Injury. J Neurol Phys Ther; 41 Suppl 3 Supplement, IV STEP Special Issue: S39-S45. DOI: 10.1097/NPT.0000000000000184. 

[3] Studie der Mayo Clinic im Studienregister: Spinal Cord Injury Epidural Stimulation. ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02592668. 

[4] Studie des Centre Hospitalier Universitaire Vaudois im Studienregister: Epidural Electrical Simulation (EES) With Robot-assisted Rehabilitation in Patients With Spinal Cord Injury (STIMO). ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02936453. 

[5] Harkema S et al. (2011): Effect of epidural stimulation of the lumbosacral spinal cord on voluntary movement, standing, and assisted stepping after motor complete paraplegia: a case study. Lancet; 377 (9781): 1938-1947. DOI: 10.1016/S0140-6736(11)60547-3. 

[6] Angeli CA et al. (2014): Altering spinal cord excitability enables voluntary movements after chronic complete paralysis in humans. Brain;137 (Pt 5): 1394-409.