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03.05.2022

Neigen vegetarisch ernährte Kinder eher zu Untergewicht?

     

  • Kinder, die sich vegetarisch ernähren, sind laut Studie häufiger untergewichtig
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  • allerdings kein Nährstoffmangel erkennbar
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  • Fachleute weisen auf möglichen Zufallseffekt bei der Datenauswertung hin
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Kanadische Forschende kommen in einer großen Längsschnitt-Kohortenstudie zu dem Ergebnis, dass Kinder, die sich vegetarisch ernähren, häufiger untergewichtig sind. Einen besonderen Nährstoffmangel wiesen diese Kinder aber nicht auf. Die Wachstums- und Ernährungswerte waren dieselben wie bei Kindern, die Fleisch aßen. Die Ergebnisse der Studie wurden am 02.05.2022 im Fachjournal „Pediatrics“ veröffentlicht (siehe Primärquelle). Untersucht wurden insgesamt 8907 Kinder im Alter von sechs Monaten bis acht Jahren, die Daten wurden zwischen 2008 und 2019 erhoben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden nach ihrem vegetarischen Status – definiert als ein Ernährungsmuster, das Fleisch ausschließt – oder nach ihrem nicht-vegetarischen Status eingeteilt.

Die Forschenden fanden heraus, dass Kinder, die sich vegetarisch ernährten, einen ähnlichen durchschnittlichen Body-Mass-Index (BMI), eine ähnliche Körpergröße, Eisen-, Vitamin-D- und Cholesterinwerte aufwiesen wie Kinder, die Fleisch verzehrten. Vor der Studie war damit gerechnet worden, dass die vegetarisch ernährten Kinder schlechtere Werte aufweisen würden. Den Ergebnissen zufolge hatten Kinder mit vegetarischer Ernährung jedoch eine fast zweifach höhere Wahrscheinlichkeit, untergewichtig zu sein. Es gab keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit Übergewicht oder Fettleibigkeit. Kinder mit vegetarischer Ernährung waren im Durchschnitt etwas kleiner als Kinder, die Fleisch aßen. Für ein dreijähriges Kind entsprach der Größenunterschied im Schnitt 0,3 Zentimeter. Die Qualität der vegetarischen Ernährung wurde in dieser Studie nicht untersucht.

Obwohl insgesamt keine Unterschiede zwischen den biochemischen Messwerten der jungen Vegetarier und Fleischesser gefunden wurden, betonen die Studienautoren aufgrund der höheren Wahrscheinlichkeit von Untergewicht bei vegetarischer Ernährung die Notwendigkeit besonderer Sorgfalt bei der Essensplanung von Kindern.

Das SMC hat Fachleute zur Methodik der Studie und zur etwaigen Gesundheitsgefahr von Untergewicht bei vegetarisch ernährten Kindern befragt.

Übersicht

     

  • Dr. Peter von Philipsborn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
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  • Prof. Dr. Hans Hauner, Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, Technische Universität München (TUM)
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Statements

Dr. Peter von Philipsborn

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)

„Die Studie untersucht den Einfluss einer vegetarischen oder veganen Ernährung bei Kindern zwischen sechs Monaten und acht Jahren auf die körperliche Entwicklung und die Eisen- und Vitamin-D-Versorgung. Hierfür wurden knapp 9000 Kinder in Toronto, Kanada, in einem Zeitraum von knapp drei Jahren mehrfach körperlich untersucht. Außerdem wurden die Eltern gefragt, ob sie ihre Kinder vegetarisch oder vegan ernähren. Dies war für rund 250 Kinder der Fall, was einen Vergleich zwischen vegetarisch oder vegan und herkömmlich ernährten Kindern ermöglicht.“

„Die ForscherInnen konnten hinsichtlich der meisten untersuchten Merkmale keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen feststellen: hinsichtlich der Körpergröße, dem durchschnittlichen Körpergewicht gemessen am Body-Mass-Index (zBMI) sowie dem Eisen- und Vitamin-D-Spiegel im Blut konnten keine Unterschiede zwischen vegetarisch oder vegan ernährten Kindern einerseits und herkömmlich ernährten Kindern andererseits festgestellt werden.“

„Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit früheren Untersuchungen aus anderen Ländern, die ebenfalls zeigten, dass eine ausgewogene, abwechslungsreiche vegetarische Ernährung Kinder und Erwachsene gleichermaßen mit allen notwendigen Nährstoffen versorgt und eine normale kindliche Entwicklung ermöglicht. Dies entspricht auch den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).“

„In der Studie wurde auch das Auftreten von Untergewicht untersucht. Der Anteil der Kinder mit Untergewicht war sehr niedrig, und lag in beiden Gruppen im Verlauf der Studie im Durchschnitt bei rund ein Prozent, wie eine Grafik im Anhang der Studie zeigt – unter vegetarisch oder vegan ernährten Kindern lag er jedoch insbesondere zu Beginn der Studie etwas höher als unter herkömmlich ernährten Kindern. Dies erstaunt zunächst, da die Studie hinsichtlich des durchschnittlichen Körpergewichts (gemessen mit dem zBMI beziehungsweise Body-Mass-Index) zu keinem Zeitpunkt einen Unterschied zwischen den beiden Gruppen nachweisen konnte. Da die Anzahl der Kinder mit Untergewicht in der Studie insgesamt sehr niedrig war, ist der scheinbare Unterschied zwischen den zwei Gruppen daher möglicherweise auf einen Zufallseffekt zurückzuführen. Dies ist insbesondere deshalb möglich, weil in der Studie eine große Zahl an Merkmalen untersucht wurde – und je mehr Merkmale untersucht werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei mindestens einem Merkmal rein durch Zufall ein vermeintlicher Unterschied zwischen den untersuchten Gruppen zeigt. Dies wurde von den AutorInnen in ihren Berechnungen nicht berücksichtigt.“

„Die AutorInnen der Studie weisen in diesem Zusammenhang noch auf eine weitere mögliche Fehlerquelle hin: In der Studie wurde eine Methode für die Klassifikation von Kindern als untergewichtig verwendet, die für Kinder europäischer Herkunft entwickelt wurde. Wird diese Methode bei Kindern asiatischer Abstammung angewandt, kann dies nach Einschätzung von Fachleuten zu einer Überschätzung der Häufigkeit von Untergewicht führen. Tatsächlich war ein Drittel der vegetarisch oder vegan ernährten Kinder in der Studie asiatischer Abstammung; unter den herkömmlich ernährten Kindern lag der Anteil hingegen nur bei 20 Prozent. Dies kann möglicherweise die Erklärung dafür sein, weshalb der Anteil von Kindern mit Untergewicht unter den vegetarisch oder vegan ernährten Kindern in der aktuellen Studie höher erscheint.“

„Die AutorInnen weisen auch auf eine weitere Einschränkung ihrer Studie hin: In der Auswertung wurde nicht zwischen vegetarisch und vegan ernährten Kindern unterschieden. Aus anderen Studien weiß man, dass es bei einer veganen, das heißt rein pflanzlichen Ernährung, unter anderem zu einem Vitamin-B12-Mangel kommen kann. Deshalb sollten alle Menschen, die sich vegan ernähren, ein Vitamin-B12-Präparat einnehmen. In der Wachstumsphase in Kindheit und Jugend ist der Bedarf an vielen Nährstoffen erhöht, darunter auch solchen, die vermehrt in tierischen Lebensmitteln vorkommen. Für Kinder und Jugendliche, aber auch für Schwangere und Stillende wird eine vegane Ernährung daher von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nicht empfohlen. Eltern, die ihre Kinder dennoch vegan ernähren möchten, sollten sich in jeden Fall von einer qualifizierten Ernährungsfachkraft beraten lassen, und die Versorgung mit kritischen Nährstoffen wie Vitamin B12, Eisen und Vitamin D regelmäßig ärztlich überprüfen lassen.“

Eine vegetarische Ernährung, die neben pflanzlichen Lebensmitteln auch Milch und Eier enthält, ist hingegen auch für Kinder empfehlenswert, sollte aber – wie jede Ernährung – ausgewogen und abwechslungsreich sein. Alle Kinder sollten unabhängig von ihrer Ernährung die kindlichen Vorsorgeuntersuchungen (die sogenannten U-Untersuchungen) bei ihrem Kinderarzt oder ihrer Kinderärztin wahrnehmen. Wird bei einer Vorsorgeuntersuchung ein Untergewicht festgestellt, kann eine Ernährungsberatung sinnvoll sein.“

Prof. Dr. Hans Hauner

Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, Technische Universität München (TUM)

„Vegetarische und vegane Ernährung wird immer populärer. Nach Schätzungen ernähren sich rund zehn Prozent aller Deutschen inzwischen vegetarisch und mindestens ein Prozent der Bevölkerung sogar strikt vegan. Dabei handelt es sich meist um jüngere Menschen, nicht selten um junge Familien mit Kleinkindern. Das wirft die Frage auf, inwieweit eine vegetarische beziehungsweise vegane Ernährung für Kinder sicher ist.“

„Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Während nordamerikanische Fachgesellschaften hier wenig Bedenken haben, sieht ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. eine vegane Ernährung bei Kleinkindern recht kritisch und hält sie für wenig geeignet, um den besonderen Nährstoffbedarf in dieser Altersgruppe zuverlässig zu decken [1]. Die Datenlage zu dieser wichtigen Frage ist bislang aber dünn und wenig konsistent. Meist handelt es sich um kleinere Studien und oft lediglich um Querschnittsstudien, sodass es noch einige Unsicherheit gibt.“

„In einer neuen Studie aus Kanada wurde in einer Kohorte von 8907 Kindern (TARGet Kiids!), die bei Einschluss zwischen 0,5 und 8 Jahre alt waren (im Mittel 2,2 Jahre), über einen mittleren Zeitraum von 2,8 Jahren untersucht, welcher Zusammenhang zwischen einer vegetarischen Ernährung und dem Wachstum der Kinder und ihren Serumkonzentration von Ferritin (Biomarker für Eisenversorgung) und 25-Hydroxy-Vitamin-D3 sowie den Serumlipiden besteht. Die Ernährungsweise wurde mittels eines Fragebogens über die Eltern erfragt. Danach hielten 248 Kinder eine vegetarische Ernährung ein.“

„In einer umfangreichen Analyse, die auch viele potenzielle Einflussfaktoren berücksichtigte, zeigte sich kein Zusammenhang zwischen vegetarischer Kost und dem BMI Z-Score beziehungsweise dem Größenwachstum der Kinder. Unter vegetarischer Ernährung fand sich aber eine erhöhte Quote von Kindern mit Untergewicht (Odds Ratio 1,87, p=0,007). Diese Kinder waren gehäuft asiatischer Herkunft und sogar länger gestillt worden. Unterschiede für Ferritin- und Vitamin-D-Spiegel konnten nicht beobachtet werden. Die vegetarisch ernährten Kinder hatten etwas günstigere Lipidwerte. Wenn sie allerdings die empfohlenen zwei Portionen Milch am Tag konsumierten, lagen die Cholesterinspiegel etwas höher und waren mit den Lipidkonzentration der Kinder ohne vegetarische Ernährung vergleichbar.“

„Damit zeigt die Studie, dass eine vegetarische Ernährung von Kindern weitgehend sicher ist. Allerdings kann auch diese Studie keine letzte Sicherheit liefern, da die Beobachtungsdauer zu kurz war und die Information über die Ernährung der Kinder und ihrer Eltern lückenhaft war. Die Autoren kommen selbst zum Schluss, dass größere Kohortenstudien benötigt werden, um die langfristigen Konsequenzen einer vegetarischen oder veganen Kost auf das Wachstum und den Ernährungsstatus der Kinder zuverlässig einschätzen zu können. Bis dahin müssen wir mit dieser Ungewissheit leben. Während eine vegetarische Ernährung mit Milchzufuhr für Kleinkinder wahrscheinlich unbedenklich ist, ist eine vegane Ernährung in dieser Altersgruppe bis zum Beweis des Gegenteils weiterhin als kritisch zu bewerten und sollte nach Möglichkeit nicht empfohlen werden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Peter von Philipsborn: „Gutachtertätigkeit für die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv).“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Elliott LJ et al. (2022): Vegetarian Diet, Growth, and Nutrition in Early Childhood: A Longitudinal Cohort Study. Pediatrics. DOI: 10.1542/peds.2021-052598.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Richter M et al. (2016): Vegane Ernährung. Position der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE). Ernährungs-Umschau. DOI: 10.4455/eu.2016.021.