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19.10.2020

Mindestmengen für Frühgeborenenversorgung

Was ist die optimale Mindestmenge für die Behandlung extrem kleiner Frühgeborener?

Am Montag, den 19.10., veröffentlichte die Fachzeitschrift „Geburtshilfe und Neonatologie“ zu dieser Frage die groß angelegte Studie eines deutschen Autorenteams (siehe Primärquelle). Die Wissenschaftler kommen darin zu dem Schluss, dass die kleinsten Frühgeborenen die größten Überlebenschancen haben, wenn sie in Perinatalzentren zur Welt kommen, die jährlich zwischen 50 und 60 solcher Kinder versorgen. Derzeit ist das nur in einem Viertel der hochspezialisierten Perinatalzentren („Level I“) in Deutschland der Fall.

Die Autoren empfehlen daher eine schrittweise Anhebung der Mindestmenge für sehr kleine Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm.

Die Mindestmengenregelung schreibt ein Mindestmaß an Erfahrung für einige komplexe Operationen und Behandlungen im Krankenhaus vor [I]. Sie legt fest, wie häufig eine Klinik einen Eingriff oder eine Therapie pro Jahr mindestens durchführen muss, damit sie diese Behandlungen anbieten darf – und auch von den Krankenkassen erstattet bekommt. Hintergrundinformationen und Datenauswertungen des SMC zum Thema Mindestmengen finden Sie hier [II].

Für extrem unreife Frühgeborene gilt seit 2010 eine Mindestmenge von 14 Fällen pro Jahr und Klinik. Im selben Jahr setzte der G-BA eine höhere Mindestmenge von 30 Fällen pro Jahr und Klinik fest, allerdings klagten daraufhin mehrere Kliniken und bekamen Recht vor dem Bundessozialgericht. Die Begründung: Es gebe keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Erhöhung [III]. Die Autoren haben in der vorliegenden Studie nun versucht, die optimale Mindestmenge auf Grundlage deutscher Versorgungsdaten zu bestimmen. Sie haben dafür die Behandlungsergebnisse aller Frühgeborenen aus sämtlichen deutschen Perinatalzentren von 2010 bis 2018 untersucht. Die Arbeit ist damit der bislang umfassendste deutsche Beitrag zu dieser Fragestellung. Sie ist wissenschaftlich und politisch besonders relevant, weil der G-BA aktuell wieder über die Anhebung der Mindestmenge für Frühgeborene beratschlagt.

Eine Mindestmenge von 50 bis 60 Frühgeborenen pro Perinatalzentrum der maximalen Versorgungsstufe („Level I“) würde bedeuten, dass die Anzahl der entsprechenden Zentren von aktuell 163 auf rund ein Viertel dessen sinken würde. Damit könnten laut der Studie jährlich zwischen 25 und 40 Todesfälle vermieden werden. Die Anfahrtswege zu den Klinken würden sich in manchen Regionen durch die Reduzierung der Zentren verlängern. Wie viele Schwangere davon betroffen wären, ist noch nicht geklärt.

Eine begleitende Datenauswertung des SMC dazu, welche Perinatalzentren bereits mehr als 50 Frühgeborene pro Jahr behandeln und welche nicht, finden Sie hier.

Das SMC hat Expertinnen und Experten aus dem Bereich Neonatologie und Versorgungsforschung um Einordnung gebeten: Wie schätzen sie die Bedeutung der Studie ein? Ist der in der Studie errechnete Effekt von 25 bis 40 vermeidbaren Todesfällen ausreichend, um eine Anhebung der Mindestmenge auf einen Wert zwischen 50 und 60 zu begründen? Wie bewerten Forschende das Verhältnis von Nutzen und Nachteilen der längeren Anfahrtswege?

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig
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  • Prof. Dr. Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
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  • Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin
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Statements

Prof. Dr. Ulrich Thome

Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig

„Diese Untersuchung bringt in drei Aspekten neue Erkenntnisse. Erstens: Der Zusammenhang zwischen Fallzahlen (Volumen) und Ergebnisqualität ist über die Jahre robust und kann gleichermaßen mit älteren und neueren Daten reproduziert werden. Zweitens: Diese Studie basiert auf in Deutschland gewonnenen Daten deutscher Perinatalzentren und gilt damit insbesondere für das deutsche Gesundheitswesen. Sie zeigt somit, dass der Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Ergebnisqualität auch in Deutschland existiert. Drittens: Es gab bisher keine Berechnungen dazu, ab welchem Schwellenwert optimale Behandlungsergebnisse zu erwarten sind. Dies wurde erstmals mit dieser Studie versucht.“

„Die Analyse beruht auf den tatsächlich gemeldeten Ergebnisdaten aller deutschen Perinatalzentren und ist damit für Deutschland hochgradig repräsentativ. Das Berechnungsverfahren ist plausibel und Details sind im Internet-Supplement dokumentiert. Leider waren ein paar Hochrechnungen in der Analyse notwendig, diese machen das Ergebnis vermutlich etwas unschärfer, ohne es zu invalidieren.“

„Zum Glück ist die Zahl der berechneten vermeidbaren Todesfälle relativ niedrig – denn jeder vermeidbare Todesfall ist einer, der hätte vermieden werden sollen. Für einen Handlungsdruck reicht es daher auf jeden Fall aus. Dabei darf man nicht übersehen, dass es sich bei den Todesfällen um die Spitze des Eisbergs handelt. Dem Versterben gehen meistens konkrete Gesundheitsschäden voraus und es gibt natürlich immer auch Kinder, die ebenfalls diese Gesundheitsschäden davontragen, aber mit ihnen überleben. Es ist anzunehmen und auch für einige ausländische Gesundheitssysteme belegt, dass dort, wo das Sterberisiko erhöht ist, auch das Risiko, Dauerschäden und Behinderungen davon zu tragen, höher ist als in den Zentren, wo das Sterberisiko geringer ist. Also wäre auch ein Teil der Behinderungen, mit denen einige Kinder ins Leben starten, vermeidbar: nämlich dann, wenn alle sehr kleinen Frühgeborenen (unter 1250 Gramm) in Perinatalzentren zur Welt kämen, in denen mindestens 50 bis 60 solcher Fälle pro Jahr versorgt werden. Hierzu hat die Analyse allerdings keine Zahlen untersucht.“

„Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass Mindestmengen unter 35 Fällen pro Jahr keinen positiven Effekt haben. Eine neue Mindestmenge sollte deutlich darüber angesetzt werden. Ein optimaler Nutzen, das heißt, eine möglichst niedrige Sterblichkeit und vermutlich eine möglichst niedrige Zahl geschädigt überlebender Kinder, würde mit einer Mindestmenge von 50 bis 60 Frühgeborenen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht erreicht. Es erscheint jedoch sinnvoll, die Mindestmenge schrittweise anzuheben, da die Kapazitäten der verbleibenden Perinatalzentren teilweise angehoben werden müssten, um die Gesamtzahl der Patienten zu bewältigen. Für Ballungsräume mit mehreren Perinatalzentren, die alle nicht die Mindestmenge schaffen, müsste außerdem berechnet werden, ob bei einer Umverteilung der Frühgeborenen im Ballungsraum eines der Perinatalzentren die Mindestmenge erreichen würde. Dann müsste entschieden werden, welches der Perinatalzentren das sein soll und anschließend dessen Kapazität entsprechend ausgebaut werden. Diese Vorgänge brauchen Zeit, weshalb die Mindestmenge schrittweise angehoben werden sollte – wobei die Anhebungsschritte vorab klar sein sollten, damit alle Beteiligten Planungssicherheit haben.“

„Wenn man die Mütter befragt, würden die allermeisten von ihnen einen längeren Anfahrtsweg in Kauf nehmen, wenn dafür die Chance ihres Kindes, gesund und ohne Behinderung zu überleben, verbessert würde. Statt die in Deutschland übergroße Zahl kleiner, ineffizienter Perinatalzentren zu erhalten, wäre es also sinnvoll, das Geld lieber für flankierende Maßnahmen für die Familien auszugeben, die ihr Leben auf die neue Situation einstellen müssen, dass eines ihrer Kinder als Frühgeborenes in einem weiter entfernten Krankenhaus liegt. Durch die Krankenkassen finanzierte Unterbringungsmöglichkeiten für die Mütter vor Ort sind dabei genauso wichtig wie Haushaltshilfen, die die Versorgung der Geschwisterkinder daheim sicherstellen. An dieser Stelle gibt es noch viel Verbesserungspotenzial.“

Prof. Dr. Christoph Bührer

Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

„Wenn Kinder in Deutschland sterben, dann zumeist in den ersten Lebenstagen, und zwar aufgrund von extremer Frühgeburtlichkeit und deren Folgeerkrankungen. Aus einer größeren Anzahl von Untersuchungen ist bekannt, dass die Chancen extrem unreifer Frühgeborener zu überleben und – was von vielen Eltern als noch wichtiger erachtet wird – ohne Behinderung zu überleben, umso größer sind, je mehr Erfahrung ein Krankenhaus mit solchen Kindern hat. Wie in anderen Bereichen der Medizin folgt daraus die Forderung nach der Einführung von Mindestmengen. Diese ist notwendigerweise mit einer Verringerung der Anzahl der Krankenhäuser verbunden, die sehr unreife Frühgeborene behandeln dürfen. Dagegen sind kleinere Krankenhäuser und die Deutsche Krankenhausgesellschaft zu Felde gezogen – mit ‚Erfolg‘: Die Einführung einer Mindestmenge von jährlich 30 Frühgeborenen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht wurde durch das Bundessozialgericht gestoppt. Die Begründung: Für diesen Schwellenwert gäbe es für Deutschland derzeit keine ausreichende Berechnungsgrundlage. Diese Berechnungsgrundlage stellt die vorliegende Arbeit nun zur Verfügung. Dabei ergibt sich, dass die optimale Mindestmenge mit 50 bis 60 Frühgeborenen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht deutlich höher liegt, als in der seinerzeitigen Regelung vorgesehen.“

„Die Studie gründet sich auf Daten, die von den Krankenhäusern verpflichtend bei Entlassung, Tod oder Verlegung aller Frühgeborenen im Rahmen der Qualitätssicherung gemeldet werden müssen. Es handelt sich also nicht um eine Stichprobe, sondern um praktisch alle der über 56.000 Frühgeborenen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht, die von 2010 bis 2018 in Deutschland stationär behandelt wurden. Der Datensatz hat einen Schönheitsfehler: Er ist fall-, nicht personenbasiert. Bei jeder Verlegung von einem Krankenhaus in ein anderes entsteht in den Daten ein neuer Fall. Die Fälle werden nicht zusammengeführt. Das bedeutet: Wenn ein Kind stirbt, wird der Todesfall der Klinik zugerechnet, die das Kind zuletzt behandelt hat – auch wenn oft die Ursache des Todes in Umständen zu suchen ist, die im vorher behandelnden Krankenhaus aufgetreten sind. Gerade bei Komplikationen werden Frühgeborene aus Kliniken mit geringerer Fallzahl in spezialisierte Zentren verlegt und sterben dann dort möglicherweise. Bei einer personenbasierten Betrachtung wäre der errechnete Behandlungsvorteil in großen Zentren vermutlich ausgeprägter gewesen, ohne dass sich etwas an der Grundaussage geändert hätte.“

„Jeder vermeidbare Todesfall ist eine Tragödie, erst recht, wenn es sich um ein Kind handelt. Die wirkliche Anzahl der Kinder, die durch eine Erhöhung der Mindestmenge gerettet werden kann, dürfte deutlich höher liegen, weil die fallbasierte Datenstruktur der Neonatal-Erhebung das Verlegungsgeschehen außer Acht lässt. Hinzu kommt, dass glücklicherweise bereits jetzt besonders kritische Fälle an größere, oft hoch spezialisierte Zentren verwiesen werden. Die möglicherweise auftretenden Komplikationen werden dann ebenfalls diesen Zentren zugerechnet – denn die aktuelle Risikoadjustierung kann diese Effekte mathematisch nur schwer ausgleichen. “

„Die Anhebung der Mindestmenge ist dringend erforderlich, und zwar auf ein Niveau, das dem in der Studie berechneten zumindest nahekommt. Das kann nur schrittweise erfolgen, weil auch die Personalkapazitäten in die größeren Kliniken mitwandern müssen. In Ballungszentren ließe sich die Anhebung der Mindestmenge einfacher umsetzen, in dünnbesiedelten Gebieten stößt man auf Probleme mit der Erreichbarkeit.“

„Eine Verringerung der Anzahl der Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe (Level I) auf ein Viertel der jetzigen Zahl dürfte aus politischen Gründen nicht schnell und vor allem nicht überall umsetzbar sein. Aber wenn es gelänge, ihre Anzahl zu halbieren, wäre das ein großer Schritt nach vorn. In Schweden hat man die Behandlung sehr unreifer Frühgeborener auf acht Kliniken konzentriert – mit dem Ergebnis, dass die Sterblichkeit sehr kleiner Frühgeborener dort niedriger ist als in Deutschland. Diese Regionalisierung (Reduzierung der Krankenhausstandorte; Anm. d. Red.) ist dort gelungen, obwohl die Bevölkerungsdichte Schwedens nur zehn Prozent der deutschen beträgt und die Fläche Schwedens die Deutschlands um 25 Prozent übersteigt. Hätten wir schwedische Verhältnisse, wäre die Anzahl der Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe (Level I) in Deutschland vergleichbar mit der Anzahl der IKEA-Einrichtungshäuser. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die meisten Frühgeborenen deutlich mehr wiegen als 1250 Gramm und in einem Perinatalzentrum Level II behandelt werden können. Gegenwärtig haben wir in Deutschland mehr als dreimal so viele Perinatalzentren Level I (Maximalversorgung) wie Level II (Schwerpunktversorgung), das Verhältnis sollte jedoch genau andersherum sein.“

Prof. Dr. Reinhard Busse

Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin

„Das Thema ist hochrelevant, sowohl wissenschaftlich als auch politisch und für die Öffentlichkeit – insbesondere, seit die Hochsetzung der Mindestmenge für Frühgeborene unter 1250 Gramm Geburtsgewicht von 14 auf 30 pro Jahr per Gerichtsbescheid blockiert wurde. Umso wichtiger wäre klar verständliche (neue) Evidenz. Leider hat sich auch in dieser Publikation ein schwer verständlicher Fachjargon eingeschlichen, der diese Verständlichkeit vereitelt. So redet zum Beispiel der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei den Frühgeborenen von ‚Level I‘, wenn deren Geburtsgewicht unter 1250 Gramm liegt und von ‚Level II‘, wenn Kinder gemeint sind, die zwischen 1250 bis unter 1500 Gramm wiegen. Zugleich gibt es Perinatalzentren ‚Level I‘ und ‚Level II‘, die aufgrund ihrer Ausstattung (und nicht der dort behandelten Frühgeborenen) unterschieden werden. Die informierte Leserin fragt sich nun, was in der Publikation mit ‚Level I‘ gemeint ist, während der Laie vermutlich gar nicht versteht, worum es geht – was sehr schade wäre.“

„Leider ist nicht nur die Terminologie etwas schwierig, sondern auch die Beschreibung der Methodik. Das liegt unter anderem an der Struktur der vorhandenen Daten. So liegen zwar die Daten von Level-I- und Level-II-Zentren getrennt vor und werden auch getrennt voneinander ausgewertet, aber innerhalb dieser Daten können die Frühgeborenen offenbar nicht nach Gewichtsklassen unterschieden werden. Es gibt nur eine Kategorie, die alle Kinder bis zu einem Gewicht von weniger als 1500 Gramm umfasst. Das Interesse der Autoren liegt aber auf den Frühgeborenen bis zu 1250 Gramm. In der Methodik wird daher von der ‚hochgerechneten‘ jährlichen Fallzahl an Frühgeborenen unter 1250 Gramm pro Perinatalzentrum gesprochen – und vermutlich auch die Sterblichkeit dieser Gruppe anhand der Sterblichkeit der Gesamtgruppe unter 1500 Gramm hochgerechnet.“

„Leider ist die Fallzahl der Kinder unter 1250 Gramm als Teil aller Kinder unter 1500 Gramm schwer nachvollziehbar. Das gleiche gilt auch für die Fallzahl im beobachteten Zeitraum insgesamt und pro Jahr. Berichtet wird für fünf Fünf-Jahres-Zeiträume, in denen jeweils rund 45.000 Frühgeborene behandelt wurden. Zu beachten ist, dass sich diese fünf Zeiträume jeweils nur um ein Jahr unterscheiden: Das erste Intervall schließt die Jahre 2010 bis 2014 ein, dass zweite die Jahre 2011 bis 2015, und so weiter. Das letzte Intervall endet 2018. Der Gesamtzeitraum umfasst daher insgesamt neun Jahre. Damit beträgt die Gesamtzahl aller Frühgeborenen in den fünf Zeiträumen nicht fünfmal circa 45.000 Kinder, also 225.000 Kinder, sondern nur rund 80.000 Kinder. Laut Text sollen davon ‚über 56.000‘, also rund 70 Prozent, ein Geburtsgewicht unter 1250 Gramm haben; eine ähnliche Größenordnung lässt sich aus Tabelle 2 ableiten. Ebenso müssen die Zahlen der verstorbenen Frühgeborenen betrachtet werden: Es sind nicht fünfmal knapp über 2000 Frühgeborene bis 1500 Gramm, die versterben, sondern circa 400 pro Jahr multipliziert mit neun, also 3600. Das bedeutet, pro Zentrum wurden knapp über 40 Frühgeborene jährlich versorgt, von denen zwei verstarben. Wie von der Gesamtsterblichkeit in der Gruppe der Kinder bis unter 1500 Gramm auf die Sterblichkeit der Kinder unter 1250 Gramm hochgerechnet wurde, bleibt zumindest mir unklar.“

„Insgesamt versterben pro Jahr 400 Frühgeborene, davon mindestens 70 Prozent – also mindestens 280 – mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm. Die hochgerechnete Gesamtsterbezahl dieser Gruppe finde ich im gesamten Text der Studie nicht. Die Vermeidung von 25 bis 40 Todesfällen in dieser Gruppe bedeutet eine Abnahme der relativen Sterblichkeit um rund ein Zehntel von circa fünf Prozent auf 4,5 Prozent. Umgekehrt steigt das erwartete Überleben von circa 95 Prozent auf 95,5 Prozent, also um weniger als eins von hundert. Dies ist auch aus Abbildung 2 herauszulesen, die ich aussagekräftiger als die verwirrende Abbildung 1 finde.“

„Ungeachtet der Probleme der Autoren, aus den vorliegenden Daten genaue Werte für die Gruppe der Frühgeborenen unter 1250 Gramm zu extrahieren, zeigt die Studie, dass eine Anhebung der Mindestmenge auf jeden Fall die Sterblichkeit der Frühgeborenen weiter senken könnte. Der Artikel zeigt in Abbildung 2 aber auch, dass schon bei einer Mindestmenge von circa 25 ein halb so großer Effekt wie bei einer Mindestmenge von 50 bis 60 zu erreichen wäre.“

„ In den Ballungszentren würden sich durch die Reduzierung der Zentren die Anfahrtswege wenig oder gar nicht verändern. Die maximalen Anfahrtswege allerdings würden sich durch die Verringerung der Perinatalzentren auf ein Viertel etwa verdoppeln. Derzeit versorgt jedes der 163 Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe (Level I) durchschnittlich eine Fläche von knapp 2200 Quadratkilometern, was einem Kreis mit einem Radius und einem maximalen Anfahrtsweg von 47 Kilometern entspricht. Eine Reduzierung der Zentren auf ein Viertel würde den maximalen Anfahrtsweg auf rechnerisch 93 Kilometer verdoppeln, was vermutlich mehr gefühlt als de facto ein Problem darstellte. Eine Halbierung der Anzahl der Perinatalzentren würde den Radius hingegen nur auf 66 Kilometer vergrößern – ein sicherlich guter Kompromiss zwischen Qualität und Erreichbarkeit.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Christoph Bührer: „Von einer besseren Regionalisierung der Versorgung sehr kleiner Frühgeborener würden nicht nur die betroffenen Kinder und deren Familien profitieren, sondern eventuell auch die größeren Krankenhäuser, die dadurch mehr Patienten bekommen. Da ich an einem größeren Krankenhaus arbeite, könnte daraus ein potenzieller Interessenkonflikt resultieren. Mein Arbeitsvertrag ist glücklicherweise noch von der alten Sorte und ohne irgendwelche gehaltsrelevanten Zielvereinbarungen.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Heller G et al. (2020): Wie hoch ist die optimale Mindestmenge für die Behandlung Frühgeborener mit einem Geburtsgewicht unter 1250 g in Deutschland? Z Geburtshilfe Neonatol; 224: 1–8. DOI: 10.1055/a-1259-2689.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Gemeinsamer Bundesausschuss: Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschussesgemäß § 136b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGB V für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser. Mindestmengenregelung, Mm-R. Zuletzt geändert am 16. Juli 2020.

[II] Science Media Center (2019): Mindestmengen im Krankenhaus – Bilanz und Neustart. Investigative. Stand: 03.06.2019.

[III] Gemeinsamer Bundesausschuss (18.12.2012): BSG-Urteil zur Mindestmenge für die Versorgung von Früh- und Neugeborenen: Eine Entscheidung mit Licht und Schatten. Pressemitteilung.