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17.03.2021

Menschliche Embryo-Vorläufer aus der Petrischale

Zwei Forschergruppen aus den USA und Australien vermelden im Fachmagazin „Nature”, es sei ihnen erstmals gelungen, Vorläufer menschlicher Embryonen im Labor ohne Befruchtung zu erzeugen (siehe Primärquellen). Bei diesen sogenannten blastozysten-ähnlichen Strukturen handelt es sich um eine Art Zellball, bestehend aus etwa 200 embryonalen Zellen, wie er sich nach einer natürlichen Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium nach etwa fünf bis sechs Tagen entwickeln würde, bevor er sich nach einigen weiteren Tagen in die Gebärmutterschleimhaut einnistet. Der Erfolg der Forschenden eröffnet bisher ungeahnte Forschungshorizonte, die allerdings mit ihren Experimenten auch ethisches Neuland beschreiten.

Während es den US-amerikanischen Forschenden nach eigenen Angaben gelang, sogenannte menschliche „Blastoide” aus embryonalen Stammzellen in 3D-Zellkultur zu differenzieren, reprogrammierte die australische Gruppe Fibroblasten (Bindegewebsbildungszellen) und führte mit den entstehenden Gebilden, die sie induzierte Blastoide – also iBlastoide – nennen, erste in vitro Einnistungs-Experimente durch. Nach eigenen Angaben fanden sich in der Entwicklung in vitro keine morphologischen oder molekularen Hinweise auf das Auftreten des in der menschlichen Embryonalentwicklung typischen Primitivstreifens. Die Erfolgsrate der Blastoid-Entwicklungen lag nur zwischen 6 und 18 Prozent. Um internationale Ethikregeln der Embryonalforschung strikt einzuhalten, wurden alle Experimente 4,5 Tage nach der iBlastoid-Anheftung in vitro beendet.

Die Forschenden weisen selbst auf Einschränkungen ihrer aktuellen Blastoiden-Modelle hin. Dennoch sei nun deren Erzeugung skalierbar und böte einzigartige Modelle, mit denen die menschliche Embryogenese, frühe Entwicklungsdefekte sowie die Ursachen frühen Schwangerschaftsverlusts erforscht oder neue Verhütungsmittel entwickelt werden könnten.

Aus forschungsethischer Perspektive stellt sich die Frage, wie solche menschlichen Blastoid-Strukturen ethisch und rechtlich zu bewerten sind und wie lange Forschende menschenähnliche, sich selbst organisierenden embryonale Gebilde entwickeln lassen dürften. Ein internationaler Konsens [I] und die meisten nationalen Gesetze zur Kultivierung menschlicher Embryonen legen bisher fest, dass durch künstliche Befruchtung gewonnene Embryonen maximal bis zu 14 Tage nach der Befruchtung und/oder bis zur der Bildung des Primitivstreifens in vitro kultiviert werden dürfen – je nachdem, was zuerst eintritt [II][III]. Die rechtliche Einordnung von Blastoiden oder Embryoiden hängt nun davon ab, inwiefern sie menschlichen Lebewesen mit Entwicklungsfähigkeit ähneln und entsprechend als menschliche Embryonen eingestuft werden sollten. Dann könnte ihnen unter Umständen Menschenwürde und Lebensschutz zuzuweisen sein. Es ist unklar, ob die nun erstmals erzeugten Blastoide vom Embryonenschutzgesetz in Deutschland erfasst wären und erforscht werden dürften [IV].

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Jochen Taupitz, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Universität Mannheim
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  • Prof. Dr. Thomas Zwaka, Abteilung für Stammzell- und Entwicklungsbiologie, Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York, Vereinigte Staaten von Amerika
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  • PD Dr. Michele Boiani, Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster
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  • Dr. Nicolas Rivron, Gruppenleiter Synthetische Entwicklung von Säugetieren, IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie GmbH, Wien, Österreich
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  • Dr. Ingrid Metzler, Post-Doc am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Wien, Österreich
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Statements

Prof. Dr. Jochen Taupitz

Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Universität Mannheim

„Das deutsche Recht verbietet die Erzeugung derartiger zellulärer Artefakte nicht. Insbesondere werden sie nach überwiegender Auffassung nicht vom Embryonenschutzgesetz erfasst. Das ist auch richtig so, weil sich aus ihnen kein ganzheitlicher Organismus, gar im Sinne eines geborenen Menschen, entwickeln kann. Aber selbst, wenn dies in der Zukunft anders sein sollte, sollte ihre Erforschung in vitro jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich erste Strukturen von Empfindungsfähigkeit auszubilden beginnen, erlaubt sein. Dies ist bei Embryonen, die wie bei der natürlichen Zeugung durch Befruchtung entstehen, nach neueren Erkenntnissen jedenfalls bis etwa 28 Tage nach der Befruchtung nicht der Fall. Deshalb wird international zu Recht diskutiert, ob die in mehreren Ländern bestehende 14-Tages-Regel nicht entsprechend ausgedehnt werden sollte.”

Prof. Dr. Thomas Zwaka

Abteilung für Stammzell- und Entwicklungsbiologie, Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York, Vereinigte Staaten von Amerika

„Die in den Publikationen beschriebenen Befunde sind nicht wirklich überraschend, da ähnliche Versuche in Mäusen bereits zu vergleichbaren Ergebnissen geführt haben. Die in der Retorte (umgangsprachlich für im Reagenzglas erzeugt; Anm. d. Red.) produzierten Zellen haben viele Charakteristika von echten embryonalen Zellen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es fundamentale Hürden gibt, die es verhindern würden, das Verfahren soweit zu optimieren, dass die artifiziellen menschlichen Zellen einen Zustand erreichen können, der äquivalent zu normalen Emryonen ist.”

“Dennoch ist für die unmittelbare Zukunft davon auszugehen, dass diese künstlichen Embryonen ‚Wagner's Homunculus’ (ein künstlich geschaffenes Menschlein; Anm. d. Red.) nicht unähnlich sind, und mit vielen Problemen und Limitationen geplagt sein werden. Weil es ethisch derzeit nicht erlaubt ist, Embryonen in der Petrischale weiter als 14 Tage zu entwickeln, werden diese Probleme vorerst verdeckt bleiben.”

“Es gibt noch viele ungelöste Rätsel über diese Phase der frühen menschlichen Entwicklung, welche die Grundsteine für fast alle Prozesse, Organe und leider auch Erkrankungen legt. Deshalb ist eine Methode wie die Blastoide dringend nötig, die diese Tür ein wenig weiter öffnet, auch wenn sie nicht perfekt ist. Die Verfügbarkeit eines alternativen Modells wird auch den Druck auf Forscher verringern, echte menschliche Embryonen in der Forschung zu verwenden. Während die Methoden, die in den beiden Publikationen beschrieben wurden, ethisch relativ unbedenklich sind, bestehet künftig die Gefahr, dass sie dazu benutzt werden könnten, Menschen zu klonieren oder in die menschliche Keimbahn einzugreifen.“

PD Dr. Michele Boiani

Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster

„Die Ergebnisse bei den humanen Blastoiden aus kultivierten pluripotenten Stammzellen (Stammzellen, die die Fähigkeit besitzen, sich zu Zellen der drei Keimblätter in der Keimbahn eines Organismus zu entwickeln; Anm. d. Red.) sind bemerkenswert, aber nicht wirklich überraschend. Weil es zuvor bereits bei Mäusen funktioniert hat, hatte ich erwartet, dass es beim Menschen noch besser funktionieren würde. Zum Beispiel, weil das Tempo der menschlichen Entwicklung langsamer verläuft als bei der Maus und daher mehr Gelegenheit zur Fehlerkorrektur bietet.“

„Auf den ersten Blick überzeugen mich die Ergebnisse der molekularen und der teil-funktionellen Charakterisierung, die vor allem eine eindrucksvolle Ähnlichkeit zwischen den erzeugten Blastoiden und natürlichen menschlichen Blastozysten zeigen. Es bleiben einige Unterschiede, die aber den positiven Gesamteindruck nicht schmälern.“

„Der eigentliche Punkt ist jedoch für mich, dass die Blastoide, selbst wenn sie sich als funktionstüchtig erweisen, nur einen begrenzten Einblick in die Ursachen des frühen Schwangerschaftsverlustes und der Entwicklungsdefekte beim Mensch bieten. Denn diese Entwicklungsdefekte sind größtenteils auf Aneuploidie (numerische Aberration des Chromosomensatzes, zum Beispiel Trisomie; Anm. d. Red.) zurückzuführen und darauf, dass mütterliche Genprodukte aus Eizellen eingelagert werden. Diese Eigenschaften werden in den Blastoiden nicht rekapituliert, da die pluripotenten Stammzellen sehr viel winziger und kurzlebiger sind als natürliche Eizellen. Außerdem haben natürliche Blastozysten zwei Elternteile. Das heißt, wenn die Ursache des Blastozystendefekts auf eine fehlerhafte Spermium-Eizelle-Genominteraktion zurückzuführen ist, dann können solche Erkrankungen nicht einfach in Blastoiden modelliert werden.“

„Optimistisch betrachtet, erlauben es die Blastoide, auf die Zerstörung von menschlichen Embryonen aus der Künstlichen Befruchtung durch die Forschung zu verzichten. Allerdings werden kryokonservierte menschliche Embryonen ohnehin zerstört, wenn sie die gesetzlich erlaubte Zeit in flüssigem Stickstoff überschritten haben. Insgesamt sind humane Blastoiden ein großartiger Schritt für die Grundlagenforschung, aber wir sollten vorsichtig sein mit dem Versprechen, dass die Ursachen des frühen Schwangerschaftsverlustes und der Entwicklungsdefekte jetzt besser beleuchtet werden können.“

Dr. Nicolas Rivron

Gruppenleiter Synthetische Entwicklung von Säugetieren, IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie GmbH, Wien, Österreich

Auf die Frage, wie überraschend die Ergebnisse der beiden Studien sind:
„Ich denke, das ist der nächste logische Schritt. Mein Labor hat 2018 gezeigt, dass wir bei der Maus blastozystenähnliche Strukturen bilden können, die wir Blastoide genannt haben. Es gab eine Menge Experimente, um zu sehen, ob wir die gleichen Strukturen mit menschlichen Stammzellen bilden können. Diese Studien sind ein erster Schritt zur Bildung eines menschlichen Blastoids, allerdings wird es noch eine Vielzahl von Fachleuten und mehrere Fortschritte in der Forschung brauchen, um eine Struktur zu bilden, die der menschlichen Blastozyste so ähnlich wie möglich ist.“

Auf die Frage, wie sehr die Blastoiden natürlichen humanen Blastozysten bereits ähneln:
„Ich denke, das wird die Zeit zeigen. Der erste Weg, um eine Idee zu bekommen, ist, sich die Morphologie der Strukturen anzusehen. Die Morphologie der Blastoide in diesen Papieren ist in Ordnung, aber sie bilden sich sehr ineffizient und dreimal langsamer als Embryonen, was bedeutet, dass einige Elemente fehlen. Abgesehen von der Morphologie müssen diese Strukturen die drei ersten Zelltypen des Embryos bilden: den Epiplast, der den ganzen Embryo bilden wird; den Throphoblast, der die Plazenta bilden wird; und den Hypoblast, der den Dottersack bildet. Es gibt Hinweise darauf, dass es einige Zellen gibt, die diesen drei Zelltypen ähneln, aber es gibt auch viele Unterschiede, und auch andere Zelltypen. Innerhalb dieses Jahres erwarten wir mehrere Publikationen aus verschiedenen Labors zu diesem Thema. Am Ende des Jahres werden wir uns all diese Daten ansehen und wahrscheinlich damit beginnen, zu bewerten, was funktioniert und was weniger funktioniert. Es ist ein mehrstufiger Prozess.“

Auf die Frage, wie die Einnistungsexperimente zu bewerten sind:
„Wir müssen mit dem Wort Implantation vorsichtig sein. Eigentlich werden diese Strukturen nicht implantiert. Sie wachsen im Inneren einer Plastikschale. Um sich einnisten zu können, müssen sie mindestens ein Endometrium haben, das ist die erste Schicht der Gebärmutter. Natürlich haben wir aufgrund der Unzugänglichkeit nur sehr wenig Anhaltspunkte darüber, was in diesen frühen Tagen der menschlichen Embryonalentwicklung passiert. Im Gegensatz dazu sind die Präimplantationsstadien recht gut bekannt, weil die Wissenschaftler Blastozysten beobachten und analysieren können, die sie von den IVF-Kliniken (in vitro fertilisation, künstliche Befruchtung; Anm. d. Red.) erhalten und die von Eltern gespendet werden, die ihr Kind bekommen haben.“

„In den hier vorgestellten Studien ernteten beide Gruppen ihre Blastoide und setzten sie in einer anderen Schale unter verschiedenen kulturellen Bedingungen ein. Unter diesen Bedingungen hefteten sie sich an den Kunststoff und begannen ein wenig zu wachsen. Dies ist ein guter Weg, um zu testen, ob die Zellen gesund sind. Allerdings gibt es noch viele Fragen, ob die entstandenen Zellen, denen im sich entwickelnden Embryo ähnlich sind.“

„Unsere Erfahrung anhand von Mausexperimenten zeigt allerdings, dass die Struktur sehr schnell aufhören würde, sich zu entwickeln. Im Jahr 2018 haben wir gezeigt, dass Maus-Blastoide in die Gebärmutter einer Maus übertragen werden können, sich einnisten und drei Tage lang zu wachsen beginnen, was ungefähr die gleiche Anzahl von Tagen ist, die diese Gruppe in ihrer Studie verwendet hat. Nach drei Tagen stellten wir fest, dass die Strukturen gewachsen waren, alle möglichen Zelltypen gebildet hatten, aber dass es im Vergleich zu einem echten Embryo zu unorganisiert war. Basierend auf unserem Wissen über die Maus ist es sehr wahrscheinlich, dass die menschlichen Blastoide nach ein paar Tagen einfach aufhören würden, richtig zu wachsen. Diese Blastoide sind extrem rudimentäre Modelle des Embryos. Nützliche, aber rudimentäre Modelle.“

Auf die Frage, welche Möglichkeiten sich für Wissenschaft durch die Erzeugung dieser Art von Blastozysten ergeben:
„Zum ersten Mal können wir Strukturen, die dem frühen Embryo ähneln, in großer Zahl erzeugen und wir können sie leicht verändern, entweder physikalisch oder genetisch. Diese beiden Aspekte sind der Schlüssel für wissenschaftliche und biomedizinische Entdeckungen. Im Gegensatz dazu gibt es Embryonen nur in sehr kleinen Stückzahlen und sie sind sehr schwer zu manipulieren. Blastoide sind gute Modelle, die verwendet werden können, um zunächst zu verstehen, wie sich der Embryo entwickelt, und dann schließlich, um Medikamente zu testen. Wir können uns also vorstellen, dass sie gute Plattformen sind, um neue Behandlungen zu entwickeln, um zum Beispiel Fehlgeburten oder Unfruchtbarkeit zu verhindern, indem man den Prozess der Einnistung verbessert. Man könnte die Blastoide auch nutzen, um neue Verhütungsmittel zu entwickeln, die für eine bessere Familienplanung sehr nützlich wären.“

„Es gibt aber immer noch klare Limitationen. Wir stehen mit dieser Forschung immer noch am Anfang. Der Prozess der Selbstorganisation der Stammzellen muss effizienter werden. Im Moment bilden nur fünf bis zehn Prozent der Strukturen ein Blastoid. Damit das sinnvoll ist, müssen es 70 oder 80 Prozent sein. Der zweite Punkt ist, dass sich diese Strukturen mit einem ähnlichen Timing entwickeln müssen wie die Blastozyste. Im Moment dauert es neun Tage, bis sie sich entwickeln, während ein Embryo in diesem Stadium drei Tage brauchen würde. In der Studie beobachten sie auch, dass viele Zellen innerhalb der Blastoide bereits differenziert sind: Sie haben dieses Stadium der embryonalen Entwicklung hinter sich gelassen. Die Effizienz und die Geschwindigkeit sollten also mit dem Embryo übereinstimmen, und wir müssen sicherstellen, dass die Blastoide nur die relevanten Zellen bilden und keine abnormalen Zellen. Das sind wahrscheinlich die drei wichtigsten Dinge, an denen mehrere Labore derzeit arbeiten.“

„Als die Maus-Blastoide entstanden, begann schnell eine Diskussion zwischen Ethikern, Gesetzgebern und wissenschaftlichen Gesellschaften, um eine ethische Aufsicht für diese Forschung zu entwickeln und über den rechtlichen Status dieser Strukturen nachzudenken [1][2]. Zwei Jahre lang haben wir ein Rahmenwerk entwickelt, um Blastoide in die ethischen Richtlinien der Internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) aufzunehmen. Diese aktualisierten Richtlinien werden in ein paar Wochen veröffentlicht. Wir müssen erklären, was diese Strukturen sind und entscheiden, was mit Blastoiden gemacht werden sollte und was nicht. Zum Beispiel sollten menschliche Blastoide niemals in eine tierische Gebärmutter oder menschliche Gebärmutter übertragen werden. Danach ist es Sache jedes einzelnen Landes, zu entscheiden, ob sie ihren Rahmen der ethischen Aufsicht anpassen wollen. In den Ländern, in denen Blastoide rechtlich ähnlich wie menschliche Blastozysten angesehen werden, wird diese 14-Tage-Regel gelten. Wenn sie jedoch rechtlich nicht als blastozystenähnlich angesehen werden – und das ist der derzeitige Konsens aufgrund ihrer rudimentären Natur –, dann sollten wir darüber diskutieren, wie lange sie in einer Schale aufbewahrt werden sollten. Insgesamt sind Blastoide unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit (Abwägung von Nutzen und Schaden) und der Subsidiarität (Verfolgung von Zielen mit den moralisch unproblematischsten Mitteln) der Forschung an menschlichen Embryonen eine ethische Alternative zur Verwendung von Embryonen für die Forschung und können so zur Lösung wichtiger gesellschaftlicher Probleme beitragen.“

Dr. Ingrid Metzler

Post-Doc am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Wien, Österreich

„Ich kann nicht beurteilen, ob diese Blastoiden ein aus biomedizinischer Sicht gutes Modell für die Embryonalentwicklung sind. Bemerkenswert aus sozialwissenschaftlicher Sicht erscheint mir jedoch, dass Yi Zheng und Jianping Fu im einleitenden Absatz ihres Kommentars [News&Views] insbesondere ein ethisches und regulatorisches Problem benennen, das den möglichen Mehrwert von Blastoiden als Modell zu begründen scheint. Ich denke, hier ist Vorsicht und auch Voraussicht geboten.“

„Die Arbeiten zu Blastoiden zeigen fast schon exemplarisch, dass es im biotechnologischen Zeitalter zunehmend schwierig ist, vermeintlich natürliche oder biologische Konstanten als Basis für Regulierungen zu setzen. Das Beispiel zeigt, dass die Natur selbst plastisch werden kann. Wir bewegen uns hier in einem sich immer wieder verschiebenden Graubereich. Genau deswegen werden Regulierungen immer wichtiger. Regulierungen ermöglichen es, Graubereiche gemeinsam zu gestalten und auszuloten.“

„Regulierungen schaffen die Möglichkeit, gemeinsam zu überlegen, ob überhaupt, und wenn ja, wie durch Forschung mit solchen Blastoiden eine von möglichst vielem gesellschaftlichen Gruppierungen als wünschenswert erachtete Zukunft geschaffen werden kann. Einen wichtigen Weg bilden hier die Partizipation und der Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen, die gemeinsam mehr Wissen und auch ein gemeinsames Grundverständnis in diesem Graubereich des Lebens schaffen könnten.“

„Ich denke, dass Gesellschaften hier durchaus aus Erfahrungen mit der Regulierung der Forschung mit menschlichen Embryonen lernen könnten. Auch wenn die Einstellungen zur Forschung mit menschlichen Embryonen kulturell sehr unterschiedlich sind, so überwiegt doch das Verständnis, dass es sich hierbei um Forschung handelt, bei der eine höhere regulatorische Aufmerksamkeit geboten ist. In vielen Staaten, in denen die Forschung mit Embryonen nicht verboten ist, finden wir Systeme von staatlichen Regulierungen und/oder Systeme von verbindlicher Selbstregulierung.“

„Ich persönlich könnte mir etwa ein System einer Regulierung der Forschung mit Blastoiden mit Formen von Bewilligungsvorbehalten vorstellen. Damit würde diese Forschung nicht a priori unmöglich. Sie würden aber sicherstellen, dass einzelne Forschungsvorhaben nicht nur gemacht werden, weil sie machbar sind. Sie würden sicherstellen, dass spezifische Forschungsvorhaben an einen Mehrwert für das Gemeinwohl, wie etwa auch ein gut begründetes Erkenntnisinteresse, gebündelt sind. Ein Bewilligungsvorbehalt durch ein System von Kommissionen erschiene mir hier ein gangbarer Weg. Wichtig wäre, dass solche Kommissionen transdisziplinär besetzt sind, und für die Öffentlichkeit transparent entscheiden.“

„Das würde sich auch auf die Frage beziehen, wie lange Blastoiden im Labor kultiviert werden könnten. Ich denke, Fragen dieser Art müssten im Spezifischen beantwortet werden. Wenn Blastoiden länger als 14 Tage kultiviert werden sollen, dann müsste das aus einem nicht nur für Spezialist*innen nachvollziehbaren Grund erfolgen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Jochen Taupitz: „Bei mir besteht kein Interessenkonflikt.”

Prof. Dr. Thomas Zwaka: „Ich habe keine Interessenkonflikte im Kontext der Arbeit, die hier vorgestellt wurde.“

PD Dr. Michele Boiani: „Interessenkonflikte habe ich keine.“

Dr. Nicolas Rivron: ist Mitautor von Vorschlägen zu den Leitlinien der International Stem Cell Society, die er in seinem Statement anspricht; Anm. d. Red.

Dr. Ingrid Metzler: „Ich habe keine Interessenkonflikte.”

Primärquellen

Liu X et al. (2021): Modelling human blastocysts by reprogramming fibroblasts into iBlastoids. Nature. DOI: 10.1038/s41586-021-03372-y.

Yu L et al. (2021): Blastocyst-like structures generated from human pluripotent stem cells. Nature. DOI: 10.1038/s41586-021-03356-y.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Hyun I et al. (2020): Toward Guidelines for Research on Human Embryo Models Formed from Stem Cells. Stem Cell Reports; 14: 169–174. DOI: 10.1016/j.stemcr.2019.12.008.

[2] Rivron N et al. (2018): Debate ethics of embryo models from stem cells. Nature; 564: 183-185. DOI: 10.1038/d41586-018-07663-9.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Hyun I et al. (2020): Toward Guidelines for Research on Human Embryo Models Formed from Stem Cells. Stem Cell Reports; 14(2): 169-174. DOI: 10.1016/j.stemcr.2019.12.008.

[II] Mc Cully S (2021) The time has come to extend the 14-day J Medical Ethics limit. J Med Ethics. DOI: 10.1136/medethics-2020-106406.

[III] Williams K et al. (2016) Adapting the 14-day rule for embryo research to encompass evolving technologies. Reproductive Biomedicine & Society Online. DOI: 10.1016/j.rbms.2019.12.002.

[IV] Bartfeld S et al. (2020): Organoide – Ihre Bedeutung für Forschung, Medizin und Gesellschaft. Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Nomos. DOI: 10.5771/9783748908326.

Weitere Recherchequellen

Zheng Y et al. (2021): First complete model of the human embryo. Nature. DOI: 0.1038/d41586-021-00581-3. Begleitartikel zu den Primärquellen.