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24.05.2016

Ist Diabetes vom Typ 2 eine operierbare Krankheit?

Ist Diabetes vom Typ 2 eine Krankheit, die operiert werden kann und sollte? In einem gemeinsamen Statement mehrerer Diabetes-Organisationen aus aller Welt werden Operationen zur Gewichtsreduktion („bariatrische Operationen“, zum Beispiel für einen Magen-Bypass oder ein Magenband) erstmals als Standard-Therapieoption für bestimmte Patienten mit Diabetes vom Typ 2 empfohlen. Eine entsprechende Fachpublikation mit dem Vorschlag für eine neue internationale Leitlinie ist soeben im Journal „Diabetes Care“ erschienen, begleitet von einem Kommentar des Erstautoren in „Nature“.

 

Rubino F et al. (2016): Metabolic Surgery in the Treatment Algorithm for Type 2 Diabetes: A Joint Statement by International Diabetes Organizations. Diabetes Care, 39:861–877. DOI: 10.2337/dc16-0236.

Rubino F (2016): Time to think differently about diabetes. Nature, 533:459–461. DOI: 10.1038/533459a

Übersicht

  • Prof. Dr. Stefan R. Bornstein, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III und des Zentrums für Innere Medizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
  • Prof. Dr. Arne Dietrich, Leiter des Bereichs Bariatrische Chirurgie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig
  • Prof. Dr. Andreas Pfeiffer, Leiter der Abteilung Klinische Ernährung, Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke DIfE, Nuthetal
  • Prof. Dr. Matthias H. Tschöp, Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas, Helmholtz Zentrum München, und Alexander von Humboldt-Professur für Insulinresistenz, Technische Universität München, München

Prof. Dr. Stefan R. Bornstein

Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III und des Zentrums für Innere Medizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden

„Die Therapie des Typ-2-Diabetes basierte bisher – zusätzlich zu diätetischen Maßnahmen – auf der medikamentösen Behandlung. Trotz der Entwicklung einer Vielzahl neuer Diabetes-Medikamente in den vergangenen Jahren ist der therapeutische Erfolg meist sehr begrenzt. Es gibt allerdings mittlerweile sehr robuste Daten, die gezeigt haben, dass massiv übergewichtige, adipöse Typ-2-Diabetiker von sogenannten bariatrisch-chirurgischen Eingriffen häufig mehr profitieren als von der medikamentösen Behandlung. Diese Entwicklung in der Diabetologie setzt sich jetzt insofern fort, als auch der Nutzen bariatrisch-chirurgischer Eingriffe bei weniger stark übergewichtigen Typ-2-Diabetikern immer besser dokumentiert ist. Deshalb findet hier gerade ein Paradigmenwechsel in der Diabetologie zugunsten der bariatrischen Chirurgie statt, wobei natürlich immer die Situation für den einzelnen Patienten sehr genau abgewogen werden muss.“

„Obwohl diese operativen Verfahren in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern wesentlich häufiger und länger eingesetzt werden (als in Deutschland; Anm. d. Red.), ist mittlerweile die bariatrisch-chirurgische Therapie des Typ-2-Diabetes auch in Deutschland für massiv adipöse Patienten eine etablierte Therapieoption. Der Begriff ‚etablierte Therapieoption’ bezieht sich darauf, dass der Nutzen der bariatrischen Chirurgie für Patienten mit einem Typ-2-Diabetes und höhergradiger Adipositas (BMI von mehr als 35 kg/m2) mit einem hohen Evidenzgrad belegt ist und deshalb die Indikation in diesen Fällen – das heißt ‚sofern die konservative Therapie erschöpft ist’ – in der zuletzt gültigen S3-Leitlinie zur "Chirurgie der Adipositas" verankert wurde. Diese evidenzbasierten Leitlinien sind eine wichtige Grundlage für Therapieempfehlungen im Individualfall.“

„Die Zahlen belegen, dass von dieser Therapieoption bisher in Deutschland – im Gegensatz zu anderen Ländern – relativ wenig gebrauch gemacht wird. Die meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes sind übergewichtig oder adipös (mehr 85 Prozent) – nur etwa zehn bis 15 Prozent sind normalgewichtig. In absoluten Zahlen ausgedrückt gibt es in Deutschland derzeit weit mehr als fünf Millionen übergewichtige oder adipöse Typ-2-Diabetiker. Die Zahl bariatrisch-chirurgischer Eingriffe in Deutschland (Indikation "Adipositas") lag 2011 bei ca. 5.000 – mit stark steigender Tendenz. Wenn wir grob geschätzt davon ausgehen, dass im Durchschnitt etwa 30 Prozent der adipösen Patienten einen Typ-2-Diabetes haben, dann wären das ca. 1.500 adipöse Patienten mit einem Typ-2-Diabetes, die sich 2011 einem bariatrisch-chirurgischen Eingriff unterzogen haben.“

  • Hinweis des SMC:

Prof. Dr. Stefan R. Bornstein hat zusammen mit dem Erstautor der kommentierten Fachpublikation, Prof. Francesco Rubino, zum selben Thema geforscht und publiziert.

Prof. Dr. Arne Dietrich

Leiter des Bereichs Bariatrische Chirurgie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig

„Aus der klassischen ‚Bariatrischen Chirurgie’ ist seit Längerem bekannt, dass ein vorbestehender Typ-2-Diabetes zu einem hohen Prozentsatz in eine über Jahre anhaltende komplette Remission gebracht werden kann. Neuere Studien konnten – bei jedoch noch geringen Fallzahlen – zeigen, dass dies auch bei Übergewicht und erstgradig Adipösen möglich ist.“

„Da viele Diabetiker schlecht eingestellt sind, hat dies regelhaft mikro- bzw. makrovaskuläre Komplikationen zur Folge, die die Lebenserwartung Betroffener limitieren. Nach einem erfolgreichen metabolischen Eingriff (Operation, um Typ-2-Diabetes zu behandeln; Anm. d. Red.) verbessert sich die Stoffwechsellage dramatisch, meist innerhalb weniger Tage, was zu einer Verlängerung der Lebenserwartung führt.“

„In dem vorliegenden Artikel erfolgt eine systematische Zusammenfassung der derzeit vorliegenden Daten/Studienergebnisse bezüglich der Auswirkungen einer bariatrischen oder metabolischen Operation auf einen vorbestehenden Typ-2-Diabetes. Nach Diskussion der beeindruckend positiven Ergebnisse, insbesondere im Vergleich zur konservativen Therapie des Typ-2-Diabetes, erfolgte auf einer internationalen Expertenkonferenz die Erarbeitung eines neuen Therapie-Algorithmus für Typ-2-Diabetiker, die Leitlinienqualität erreicht und hier von Rubino et al. vorgestellt wird.“

„Bemerkenswert ist, dass die Operation hier ein elementarer Baustein mit hohem Empfehlungsgrad und hoher Evidenz ist und der chirurgische Eingriff nicht mehr als Ultima Ratio wie in älteren Leitlinien beschrieben wird.“

„Ein fraglicher Kompromiss war sicher das Festhalten der Experten am BMI-System (Body Mass Index; Anm. d.Red.). Es ist bekannt, dass der BMI nur bedingt reflektiert, wie metabolisch krank der Betroffene ist. Hier gibt es bessere Parameter, wie zum Beispiel die viszerale Fettmasse. Die Festlegung auf eine BMI-Untergrenze von jetzt 30 kg/m² bedeutet, dass mehr Patienten Zugang zu dieser Behandlungsmethode haben, sie diskriminiert aber zum Beispiel eine metabolisch schwer kranke Patientin mit einem BMI von 29 kg/m². „Insbesondere in Studien, aber auch als Einzelfallentscheidung, haben in Deutschland jedoch auch Typ-2-Diabetiker mit einem BMI von unter 30 kg/m² Zugang zu dieser Behandlungsoption.“

„In Deutschland ist die Versorgungslage bezüglich bariatrischer/metabolischer Operationen eher schlecht. Im Vergleich zu einigen westlichen Nachbarländern werden pro Kopf der Bevölkerung fünf- bis zehnmal weniger Eingriffe vorgenommen. Dies hängt mit der Stigmatisierung der Betroffenen, Unkenntnis über diese Therapieoption und der häufigen Weigerung der Krankenkassen zusammen, die Kosten für die Operation zu übernehmen.“

„In Deutschland ist nach aktuellen Schätzungen jeder 13. an einem Diabetes erkrankt, 90 Prozent davon sind Typ-2-Diabetiker, davon wiederum sind 80 Prozent adipös. Es handelt sich folglich um mehrere Millionen Betroffene, die mit einem BMI von über 35 kg/m² per se bzw. mit einem problematischen Diabetes ab einem BMI größer 30 kg/m² betroffen sind.“

„Die deutsche S3-Leitlinie ‚Chirurgie der Adipositas’ wird derzeit überarbeitet. Ihr zukünftiger Name wird ‚Chirurgische Therapie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen’ sein, und die von Rubino et al. publizierten Algorithmen werden sich umfänglich in der neuen Leitlinie finden.“

Prof. Dr. Andreas Pfeiffer

Leiter der Abteilung Klinische Ernährung, Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke DIfE, Nuthetal

„Diabetes ist eng mit Adipositas verknüpft. Die bariatrische Chirurgie in Form eines Magen-Bypasses ('Roux en Y gastric bypass', kurz RYGB) führt bei den meisten Patienten mit einem Body Mass Index (BMI) von über 35 kg/m² zu einer Gewichtsreduktion um 20 bis 50 kg und damit zu einer Rückbildung des Diabetes, wenn er noch nicht zu lange besteht und eine ausreichende Insulinsekretionskapazität vorhanden ist (1). Die Gewichtsreduktion vermindert die Insulinresistenz, sodass weniger Insulin benötigt wird und die vorhandene Kapazität ausreicht (2). Daneben führt der Magen-Bypass zu einem Kontakt der unverdauten Nahrung mit dem unteren Dünndarm, wo appetithemmende Hormone freigesetzt werden (GLP-1, PYY), die zudem den Stoffwechsel steuern (3). Daneben finden Änderungen des Gallensäure-Stoffwechsels statt, die im terminalen Ileum (letzter Abschnitt des Dünndarms; Anm. d. Red.) den metabolischen Faktor FGF-19 erhöhen, der im Gehirn die Energiebilanz steuert. Die schwedischen SOS-Studien (4, 5) zeigen, dass die Patienten auch zehn und mehr Jahre nach einem Magen-Bypass ihr niedrigeres Gewicht halten können sowie länger und besser leben (4-9).“

„Deutschland ist ein Entwicklungsland in dieser Hinsicht (inwiefern es in Deutschland bereits zurzeit üblich ist, übergewichtige Patienten mit Diabetes vom Typ 2 zu operieren; Anm. d. Red.). Die skandinavischen Länder und auch die USA und Italien operieren sehr viel mehr Patienten und haben zum Teil über zehn Jahre Erfahrung, die auch in Studien publiziert wurde. Das Magenband führt nicht zu jener Stoffwechsel-Verbesserung wie der Magen-Bypass, da es lediglich eine Restriktion der Magengröße darstellt, ansonsten aber nicht die Signale, die von der Nahrung ausgelöst werden, verändert, sodass eine hohe Rückfallquote besteht. Das Magenband macht zudem relativ häufig Komplikationen durch Dislokation (Lageveränderung; Anm. d. Red.). Neuer ist der Schlauch-Magen, der etwas weniger erfolgreich als der Magen-Bypass ist und ebenfalls das Magenreservoir ausschaltet, wodurch unverdaute Nahrung in den unteren Dünndarm kommt und dort die endokrinen Veränderungen und Stoffwechselveränderungen auslösen kann.“

„Zunächst wären Patienten mit einem BMI über 35 kg/m2 und metabolischen Erkrankungen die Hauptkandidaten für eine Operation. Es ist eine Zahl von mehr als einer Million in Deutschland. Diese werden nicht alle der Operation zustimmen, die ja auch eine Komplikationsrate von etwa zehn Prozent hat. Gegenwärtig ist die Adipositas keine anerkannte Erkrankung, sodass jede Prozedur getrennt von den Kassen genehmigt werden muss. Der Diabetes verbessert sich auch bei Patienten mit einem BMI unter 35 kg/m2, sodass hier eine heftige Diskussion im Gange ist, wie weit solche Patienten davon profitieren würden (Metabolische Chirurgie). Bei Patienten mit einem BMI zwischen 40 und 50 kg/m2 steigt die Lebenserwartung durch den Bypass, sodass man hier relativ gute Argumente hat.“

Prof. Dr. Matthias H. Tschöp

Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas, Helmholtz Zentrum München, und Alexander von Humboldt-Professur für Insulinresistenz, Technische Universität München, München

„Diese massiven chirurgischen Eingriffe können nicht rückgängig gemacht werden und sind verbunden mit lebenslangen Konsequenzen und eventuellen Komplikationen. Bei lebensbedrohlichen Stoffwechselproblemen bieten solche Operationen zwar einen möglichen Ausweg, aber unsere Aufgabe in der Diabetesforschung bleibt es, effektive und sichere Wirkstoffe zu entwickeln, mit denen solch verzweifelte Situationen durch individualisierte Prävention vermieden werden können. Dabei hilft uns allerdings auch ein besseres Verständnis der Wirkmechanismen, über welche beispielsweise ein Magen-Bypass zu einer raschen Blutzuckersenkung führt.“

Mögliche Interessenkonflikte

Alle: Keine angegeben.

Literaturstellen, die von Prof. Dr. Andreas Pfeiffer zitiert wurden

(1) Lund MT et al. (2015): Preoperative beta-cell function in patients with type 2 diabetes is important for the outcome of Roux-en-Y gastric bypass surgery. J Physiol, 593:3123-33. DOI: 10.1113/JP270264.

(2) Xu XJ et al. (2015): Improved Insulin Sensitivity 3 Months After RYGB Surgery Is Associated With Increased Subcutaneous Adipose Tissue AMPK Activity and Decreased Oxidative Stress. Diabetes, 64:3155-9. DOI: 10.2337/db14-1765.

(3) Shah M et al. (2014): Contribution of endogenous glucagon-like peptide 1 to glucose metabolism after Roux-en-Y gastric bypass. Diabetes, 63:483-93. DOI: 10.2337/db13-0954.

(4) Sjostrom L et al. (2007): Effects of bariatric surgery on mortality in Swedish obese subjects. N Engl J Med, 357:741-52. DOI: 10.1056/NEJMoa066254.

(5) Sjostrom L et al. (2004): Lifestyle, diabetes, and cardiovascular risk factors 10 years after bariatric surgery. N Engl J Med, 351:2683-93. DOI: 10.1056/NEJMoa035622.

(6) Yan Y et al. (2016): Roux-en-Y Gastric Bypass Versus Medical Treatment for Type 2 Diabetes Mellitus in Obese Patients: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Medicine (Baltimore), 95:e3462. DOI: 10.1097/MD.0000000000003462.

(7) Sachdev S et al. (2016): FGF 19 and Bile Acids Increase Following Roux-en-Y Gastric Bypass but Not After Medical Management in Patients with Type 2 Diabetes. Obes Surg, 26:957-65. DOI: 10.1007/s11695-015-1834-0.

(8) Omotosho P et al. (2016): Gastric bypass significantly improves quality of life in morbidly obese patients with type 2 diabetes. Surg Endosc.

(9) Cummings DE et al. (2016): Gastric bypass surgery vs intensive lifestyle and medical intervention for type 2 diabetes: the CROSSROADS randomised controlled trial. Diabetologia, 59:945-53. DOI: 10.1007/s00125-016-3903-x.