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08.07.2020

Erbgutregion vom Neandertaler und Risiko für COVID-19

Ein von Neandertalern vererbter Erbgutabschnitt erhöht das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf von COVID-19. Zu diesem Ergebnis kommen zwei Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und veröffentlichten dies in einer Vorab-Publikation auf dem Preprint-Server bioRxiv (siehe Primärquelle) – diese Publikation hat damit noch keine wissenschftliche Begutachtung durch Fachkollegen (Peer Review) durchlaufen. Einige Bevölkerungsgruppen tragen einen hohen Anteil dieses sogenannten Haplotyps und sind damit unter Umständen besonders gefährdet, schwer am Coronavirus zu erkranken.
Bei diesem Haplotyp handelt es sich um einen Abschnitt auf dem Chromosom Nummer 3 des menschlichen Genoms, welcher sechs Gene kodiert und immer als gesamter Abschnitt vererbt wird. Anfang Juni berichtete bereits ein Team aus europäischen Wissenschaftlern bei einer umfangreichen Auswertung anhand von Patientendaten aus Italien und Spanien, dass zwei Genabschnitte mit einem schweren Verlauf von COVID-19 assoziiert seien: der Genabschnitt auf Chromosom 3 und ein Abschnitt, der für die Ausbildung der Blutgruppe verantwortlich ist [I]. Dieses Ergebnis konnte nun für den Abschnitt auf Chromosom 3 von den Max-Planck-Forschern bestätigt werden, der Zusammenhang zur Erbgutstelle für die Blutgruppe allerdings nicht.
Welche Gene dieses Erbgutabschnittes allerdings dafür verantwortlich sind, dass die Krankheit sich besser manifestieren kann, ist noch nicht bekannt. Des weiteren gilt zu klären, weshalb dieser Haplotyp in einigen Bevölkerungsgruppen weiter vererbt wird und welcher evolutionäre Vorteil sich dahinter verbirgt. Laut den Autoren tragen in Europa acht Prozent der Menschen diesen Erbgutabschnitt, in Afrika sei er gar nicht vertreten. Am weitesten verbreitet sei der Haplotyp in Südasien; dort sollen es immerhin 30 Prozent der Bevölkerung sein, die jenen Erbgutabschnitt tragen. In Bangladesch sei er mit einer Verbreitung von 63 Prozent am häufigsten zu finden.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Jeanette Erdmann, Direktorin des Instituts für Kardiogenetik, Universität zu Lübeck
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  • Prof. Dr. Andre Franke, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB), Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Statements

Prof. Dr. Jeanette Erdmann

Direktorin des Instituts für Kardiogenetik, Universität zu Lübeck

„Die kürzlich durchgeführte genetische Assoziationsstudie von Ellinghaus et al. [I] identifizierte einen Gencluster auf Chromosom 3 als einen Risikolocus (Erbgutabschnitt auf Chromosom 3; Anm. d. Red.) für Atemwegsversagen bei SARS-CoV-2. Jüngste Daten der ‚COVID-19 Host Genetics Initiative 2020‘ reproduzieren diese Assoziation und zeigen, dass dies der wichtigste genetische Risikofaktor für schwere SARS-CoV-2-Infektionen und Krankenhausaufenthalte ist.“

„Zeberg und Pääbo zeigen nun, dass das Risiko durch ein von Neandertalern vererbtes genomisches Segment von etwa 50 Kilobasen übertragen wird, das mit einer Häufigkeit von etwa 30 Prozent in Südasien und ungefähr acht Prozent in Europa auftritt.“

„Die Arbeit wurde auf dem Preprint-Server www.biorxiv.org veröffentlicht und noch keinem Peer Review Verfahren unterzogen, bekommt aber in der Öffentlichkeit sehr große Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist meines Erachtens etwas überzogen. Wir erleben derzeit wissenschaftlichen Diskurs in Echtzeit immer öfter sehr öffentlich. Diskussionen, die in früheren Zeiten Instituts-intern, oder auf Kongressen Arbeitsgruppen-übergreifend geführt wurden, sind heute häufig Thema von sogenannten Preprints und bekommen vor dem Peer-Review Verfahren schon sehr große öffentliche Aufmerksamkeit. Auf der einen Seite ist dieser sehr transparente wissenschaftliche Diskurs begrüßenswert, aber auf der anderen Seite werden frühzeitig Ergebnisse gehypt, die sich im Nachhinein als möglicherweise falsch herausstellen.“

„Die Arbeit von Zeberg und Pääbo ist meines Erachtens viel zu dünn für eine Publikation; ich kann mir kaum vorstellen, dass die Arbeit in dem vorliegenden Umfang publiziert wird.“

„Man sollte auch den Kommentar von Svante Pääbo, Mitautor und Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hervorheben, der zur Bedeutung des Haplotyps sagt: ‚Man sollte betonen, dass dies zu diesem Zeitpunkt reine Spekulation ist‘.“

Kommentar zur fehlenden Replikation des ABO Locus in den aktuellen Analysen der ‚COVID-19 Host Genetics Initiative 2020‘:
„In den Daten von Ellinghaus et al. zeigt der ABO-Locus einen Genom-weit signifikanten Effekt (1.32; 95% CI, 1.20 - 1.47; P=4.95×10−8), der in den aktuellen Daten der ‚COVID-19 Host Genetics Initiative 2020‘ nicht repliziert werden kann. Die Gründe hierfür sind noch nicht abschließend zu bewerten.“

„Es gab aber zwei Studiendatensätze der ‚COVID-19 Host Genetics Initiative 2020‘-Meta-Analyse, bei denen die Allel-Frequenz des Risikoallels komplett gedreht war (0,35 Prozent versus 0,65 Prozent). Das hat zur Folge, dass sich in der Meta-Analyse die Effekte gegeneinander aufheben können. Warum die Allel-Frequenzen in einigen Kohorten des Konsortiums so verschieden sind, kann man von außen nur schwierig beantworten. Das kann zum Beispiel auch mit den Studiengrößen zusammenhängen, die ja von sehr wenigen (60 Probanden) bis zu 1.600 Probanden reichen. Allelfrequenzen sind sehr abhängig von der Anzahl der untersuchten Probanden, je größer die Kohorten sind, desto genauer wird die Bestimmung der Allelfrequenzen.“

„Für den ABO Locus spricht aber, dass das US-Amerikanische Unternehmen 23andme das ABO-GWAS-Signal bereits mit Genom-weiter Signifikanz in einem Blog bestätigt hat.“

„Den Einwand, dass möglicherweise das Signal am ABO Locus falsch positiv sei, weil die verwendeten Kontrollen aus Blutspendern – in denen man eine Überrepräsentation der Blutgruppe O annimmt – bestehen, kann man mit den Daten aus Ellinghaus et al. widerlegen [I]. In der Arbeit sind weitere sechs Populationsbasierte Kontrollkohorten mit GWAS (Genom-weite Assoziationsstudie; Anm. d. Red.) auf die ABO-Allel-Frequenzen hin untersucht worden (Tabelle S3). Diese zeigten sehr ähnliche Allel-Frequenzen wie die Blutspender. In Tabelle S9 wurden weitere Kohorten – insbesondere Erstspender Kohorten – untersucht und hier zeigt sich auch kein Bias bezüglich der Blutgruppen A und 0. Das heißt, eine mögliche Überrepräsentation von Personen mit Blutgruppe 0 in den getesteten GWAS-Screening Kontrolldaten kann nicht gezeigt werden.“

Prof. Dr. Andre Franke

Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB), Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

„Die Studie ist sicherlich interessant, hat aber keine direkten klinischen Auswirkungen. Die aus meiner Sicht interessante Frage, die aus dieser Studie hervorgeht, ist: Warum ist dieser Risikohaplotyp (Erbgutabschnitt auf Chromosom 3; Anm. d. Red.) in unserer modernen Bevölkerung erhalten geblieben? Der größte Teil des Neandertaler-Genoms, etwa 95 Prozent in unseren Genomen, wurde negativ selektiert. Wenn nun der Haupt-Risikohaplotyp für COVID-19 bleibt, muss er auch eine positive Rolle spielen. Vielleicht ist dieser für ein sehr aktives Immunsystem gut, wenn man keine anderen Risikofaktoren hat wie zum Beispiel einen erhöhten BMI, Herzprobleme oder hohes Alter – Neandertaler starben jung. Aber im Fall eines schweren COVID-19-Verlaufs könnte dieses aktive Immunsystem und der damit verbundene Zytokinsturm Probleme verursachen, wenn zusätzlich noch andere Risikofaktoren hinzukommen.“

„Daher muss auch der schützende Charakter dieses Haplotyps untersucht werden. Interessant wäre es doch auch, die DNA von Menschen zu analysieren, die im Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe gestorben sind. Aber ich weiß nicht, ob es irgendwo eine DNA- oder Knochensammlung gibt, was ethisch vielleicht schwierig ist, weil das Ereignis noch nicht so lange her ist und Verwandte womöglich noch am Leben sind.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Jeanette Erdmann: „Ich bin Ko-Autorin auf der ursprünglichen Arbeit von Ellinghausen et al..“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Zeberg H et al. (2020): The major genetic risk factor for severe COVID-19 is inherited from Neandertaler. bioRxiv. DOI: 10.1101/2020.07.03.186296.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Ellinghaus D et al. (2020): Genomewide Association Study of Severe COVID-19 with Respiratory Failure. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2020283.