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19.02.2021

Verbreitung der SARS-CoV-2-Variante B.1.1.7 und Effekte auf die Fallzahlen

Das Robert Koch-Institut hat am 17.02.2021 eine weitere Analyse zum Vorkommen der Varianten von SARS-CoV-2 in Deutschland veröffentlicht (siehe Primärquelle). Das wichtigste Ergebnis: Die zuerst im Vereinigten Königreich aufgetauchte Virusvariante B.1.1.7 fand sich in der sechsten Kalenderwoche bereits in jeder fünften untersuchten SARS-CoV-2-positiven Probe. Oder anders gesagt: In circa 22 Prozent der positiv getesteten Fälle ließ sich B.1.1.7 nachweisen. Im Vergleich zu den im ersten Bericht vom 05.02.2021 angegebenen knapp sechs Prozent [I] ist dies ein deutlicher Anstieg, der aber ebenso schon in anderen Ländern – wie Dänemark, Irland und dem Vereinigten Königreich – beobachtet wurde und damit nicht sonderlich überraschend ist.

Der RKI-Bericht vereint wieder Ergebnisse aus mehreren Quellen: den spezifischen PCR-Tests auf die bekannten Mutationen in den Varianten, die neu etablierten systematischen Analysen des Erbguts des Erregers (Genomsequenzierung) sowie Daten aus dem regulären Meldesystem. Wir haben Experten um eine Einschätzung der bisher vorliegenden Daten und der aktuellen Lage gebeten.

Zur Frage, wie stark sich die besorgniserregenden Varianten in Deutschland verbreiten, stellen wir Ihnen einige Beispielsimulationen und Hintergrundinformationen zur Verfügung, die in der Modellierung zu beachten sind. Zurzeit sind die Daten zur Verbreitung der Varianten noch mit einigen Unsicherheiten behaftet, wie die verschiedenen Szenarien zeigen. Allerdings ist auch klar, dass jegliche Lockerung der aktuellen Maßnahmen den Zeitraum verkürzen, bis die Fallzahlen aufgrund der vermehrt zirkulierenden Varianten wieder steigen werden.

Übersicht

     

  • PD Dr. Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München
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  • Prof. Dr. Alexander Mellmann, Direktor des Instituts für Hygiene, Universitätsklinikum Münster
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  • Prof. Dr. Florian Klein, Direktor des Instituts für Virologie, Uniklinik Köln
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Statements

PD Dr. Roman Wölfel

Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München

„Der zweite Bericht des Robert Koch-Instituts zu Verbreitung der Varianten von SARS-CoV-2 zeigt erneut eindrücklich, wie schnell wir in Deutschland eine flächendeckende und zielführende Genomüberwachung implementieren konnten. Besonders ist die schnelle Einbindung der privaten Labore in die Ergebnisübermittlung aus Punktmutationsassays (PCR-Tests, die das Vorliegen zuvor bestimmter, bekannter Mutation anzeigen; Anm. d. Red.) hervorzuheben, da Surveillance-Systeme in anderen Ländern, wie dem Vereinigten Königreich, ja vor allem auf staatlichen Strukturen aufbauen.“

„Die erhobenen Daten kommen nah an eine repräsentative Stichprobe heran, auch wenn sie streng wissenschaftlich nicht repräsentativ erhoben wurden und noch einigen Verzerrungen unterliegen. Die Daten und auch ihre regionale Verteilung sind weitestgehend plausibel. Sicher gibt es auch zurzeit noch eine Verzerrung in Richtung von großen Ausbrüchen: Dort, wo viele Menschen infiziert und Hinweise auf die Variante gefunden werden, werden sicher noch überproportional viele Analysen des Virusgenoms durchgeführt. Interessant wäre es außerdem zu betrachten, welchen Einfluss die prozentuale Versorgungsabdeckung der eingebundenen Labore in den einzelnen Regionen auf die Meldung von Variantennachweisen hat. Beispielsweise gibt es meines Wissens nach im Osten Deutschlands noch mehr selbstständige Labors, die nicht einem der großen Labornetzwerke angehören und somit wahrscheinlich auch nicht an das RKI angebunden sind. Dies könnte eine weitere Verzerrung der gemeldeten Daten bedeuten.“

„Der Anstieg des Anteils der Variante B.1.1.7 auf 20 Prozent ist nicht verwunderlich oder überraschend. Eine Diskussion darüber, wie genau dieser Wert die Wirklichkeit der Verbreitung abbildet, ist aus virologischer Perspektive nicht zielführend. Eine Zunahme war auf Basis der Faktenlage zu erwarten, da die neue Variante um einen gewissen Wert ansteckender ist als ihre Vorgänger. Sie wird daher früher oder später die Vorherrschaft in den Infektionen übernehmen. Es ist zu erwarten, dass sich die, durch die derzeit benutzen PCR-Tests gesuchten, Mutationsvarianten zum Normalfall entwickeln werden. Diese PCR-Tests werden also vermutlich bald für die weitere Beurteilung der Lage zu Varianten nutzlos werden. Stattdessen müssen wir dann mit neuen Varianten rechnen. Aus diesem Grund ist auch die sich etablierende Genomsequenzierung als Überwachung so wichtig, um neue sich auf den Weg machende Mutationen frühzeitig zu detektieren.“

„Grundsätzlich gilt: Auch die Varianten von SARS-CoV-2 sind mit Maßnahmen wie dem Tragen von Masken einzudämmen. Wenn wir den Einsatz von Maßnahmen zurückfahren, wird sich SARS-CoV-2 weiterverbreiten, die ansteckenden Varianten stärker als das ursprüngliche Virus. Dass Länder wie das Vereinigte Königreich oder Dänemark aktuell keinen Anstieg in den täglichen Fallzahlen feststellen, obwohl die Variante dort schon einen Großteil der Infektionen ausmacht, liegt wahrscheinlich am Verhalten der Bevölkerung vor Ort. Die Menschen dort werden sich der Lage bewusst sein und sich verstärkt an die umfangreichen Maßnahmen zur Eindämmung halten.“

Prof. Dr. Alexander Mellmann

Direktor des Instituts für Hygiene, Universitätsklinikum Münster

„Unsere Studienergebnisse liefern erste belastbare Daten vom 27. Januar 2020 für das Land NRW [1]. Für die aktuelle Kalenderwoche liegen uns in diesem Umfang noch keine aktuellen Daten vor; die bisher vorliegenden Daten können aber als Basis für weitere Datenerhebungen und als Vergleichsdatensatz genutzt werden. Die erste Auswertung stellt aber auch erst einmal einen Startschuss dar. Ziel der Studie ist es, über einen längeren Zeitraum repräsentative Daten zu sammeln. Die Proben für unsere Auswertung werden auf Bevölkerungsebene über das Land verteilt für alle Kreise erhoben.“

„Der Ansatz des Robert Koch-Instituts läuft parallel. Die Daten lassen sich nicht vergleichen, weil die Methodiken, wie die Daten gesammelt werden, ganz andere sind.“

Auf die Frage, ob ein Anteil der Variante B.1.1.7 von 22 Prozent als realistisch einzuschätzen ist:
„Es ist real, dass es eine Zunahme der Variante gegeben hat. Ob es jetzt eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung war, das ist sicher regional sehr unterschiedlich.“

„Es ist unstrittig, dass B.1.1.7 einen Großteil der Infektionsfälle ersetzen wird. Die Dynamik ist ganz klar. Die Virusvariante hat gewisse evolutionäre Vorteile gegenüber den anderen Varianten: Sie lässt sich leichter übertragen und kann somit leichter weitere Menschen infizieren. Inwieweit sich das aber auf das Infektionsgeschehen auswirkt, hängt davon ab, wie gut in der Bevölkerung das Bewusstsein erhalten bleibt, dass die AHA-L-Regeln eingehalten werden müssen. Anhand von Ländern wie Irland konnte man beobachten, dass die Eindämmung der Infektionen mit strengen Maßnahmen machbar ist.“

„Modellierungen legen nahe, dass sich bei einem höheren R-Wert, wie wir ihn bei der B.1.1.7-Variante beobachten, im Hintergrund langsam eine dritte Welle aufbaut – das ist realistisch. Aus diesem Grund sollte jetzt klar kommuniziert werden, dass nur durch die Fortführung der Maßnahmen diese dritte Welle verhindert oder zumindest abgemildert werden kann. Das Entscheidende ist nicht, die Maßnahmen zu verschärfen oder weitere einzuleiten, sondern konsequent die alten zu befolgen.“

„Wenn die Fallzahlen weiter fallen und wir sie als Gesellschaft auf einem geringen Niveau halten können, dann können und müssen wir neu auftretenden Fällen über Kontaktverfolgung rigoros beikommen und die dann erforderlichen Maßnahmen konsequent lokal umsetzen.“

Prof. Dr. Florian Klein

Direktor des Instituts für Virologie, Uniklinik Köln

„Die durch das Robert Koch-Institut erhobenen Daten zur Verbreitung der Varianten von SARS-CoV-2 sind von guter Qualität. Sie bestätigen auch die Entwicklung, die wir an anderen Stellen beobachtet haben. Der Anteil der Variante B.1.1.7, die zuerst im Vereinigten Königreich nachgewiesen wurde, ist daher in der Größenordnung nachvollziehbar.“

„Die Stichprobe des Robert Koch-Instituts stellt eine gute Basis für relativ verlässliche Aussagen über die Verbreitung der Varianten dar. Beispielsweise ist die Angabe, wie viele Proben tatsächlich erfolgreich auf das Vorliegen von Markermutationen analysiert wurden, wichtig, um systemische Fehler zu reduzieren.“

„Mit dem neuen Bericht liegen nun mehrere Datenpunkte vor, auf deren Basis man abschätzen kann, wie sich die Varianten verbreitet haben. In der aktuellen Situation haben wir es mit der Ausbreitung von verschiedenen SARS-CoV-2-Erregern mit unterschiedlicher Biologie zu tun. Wenn man den aktuellen Stand als Ausgangspunkt annimmt und sich der bisherige Trend fortsetzt, werden wir Ende März deutlich höhere Fallzahlen sehen. Dieses ist aber natürlich abhängig von unserem Verhalten und der Wirksamkeit Infektionsketten zu unterbrechen.“

„Das Argument, dass wir noch zu wenig über die genaue Verbreitungsdynamik der einzelnen Varianten wüssten – also beispielsweise wie groß genau der R-Wert der Varianten ist – kann ich nur bedingt gelten lassen. Natürlich ist es notwendig, weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, aber wir wissen genug, um zu sagen, dass wir ein großes Problem bekommen können.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Robert Koch-Institut (17.02.2021): 2. Bericht zu Virusvarianten von SARS- CoV-2 in Deutschland, insbesondere zur Variant of Concern (VOC) B.1.1.7.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Universitätsklinikum Münster (17.02.2021): Besorgniserregende SARS-CoV-2-Varianten bisher in NRW weniger weit verbreitet als befürchtet. Pressemitteilung.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Science Media Center (2021): RKI-Bericht zu Virusvarianten von SARS-CoV-2 in Deutschland. Rapid Reaction. Stand: 09.02.2021.