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08.03.2018

Verlorene Lebenszeit als Maßeinheit für Gesundheit – vorzeitige Todesfälle, verlorene Lebensjahre oder doch etwas anderes?

Aktuell wird intensiv über die gesundheitlichen Auswirkungen von Feinstaub und Stickstoffdioxid diskutiert. In der wissenschaftlichen, aber auch in der öffentlichen Diskussion werden dabei oft unterschiedliche Gesundheitsmaße verwendet, die die Gesundheitsrisiken durch Umweltverschmutzung fassbar machen sollen. Diese Maße sind unter anderem „verlorene Lebensjahre"‚ oder „vorzeitige Todesfälle". Es handelt sich um statistische Maßzahlen, deren methodische und auch ethische Grundlagen sich deutlich voneinander unterscheiden. Beide werden zum Beispiel in der aktuellen UBA-Studie „Quantifizierung von umweltbedingten Krankheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid-Exposition in Deutschland" [1] verwendet.

Diese kurze Fact Sheet erklärt, was unter den Gesundheitsmaßen zu verstehen ist. Sie können das Fact Sheet auch als pdf herunterladen.

Übersicht

     

  • Definition und Typen der Gesundheitsmaße
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  • Maße der verlorenen Lebenszeit – Vorbemerkungen
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  • Vorzeitige Todesfälle
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  • Verlorene Lebensjahre
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  • Verlorene Lebensjahre durch Gesundheitseinschränkungen
  •  

  • Beeinträchtigungs-bereinigte Lebensjahre
  •  

  • Ethische Probleme
  •  

  • Literaturstellen, die zitiert wurden
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  • Weitere Recherchequellen
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Definition und Typen der Gesundheitsmaße

     

  • Gesundheitsmaße sind Maße, die den Gesundheitsstatus einer Population hinsichtlich Krankheit und Sterblichkeit beschreiben
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  • betrachtet ein Maß Sterblichkeit (Mortalität) und die Häufigkeit von Krankheiten (Morbidität) wird es als zusammenfassendes Gesundheitsmaß bezeichnet; engl. summary measures of public health (SMPH)
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  • sie werden eingesetzt, um den Gesundheitsstatus eines Staates zu beurteilen, um
    • das Gesundheitssystem und die Forschung daran anzupassen
    • Gesundheit national und international zu vergleichen
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  • sie lassen sich in zwei Typen unterteilen [2]:
    • Maße, die verlorene Lebenszeit durch Krankheit oder Beeinträchtigung im Kontrast zu einem Idealzustand betrachten; engl. health gaps
    • Maße, die korrigierte Lebenserwartung betrachten, engl. health expectancies
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  • Maße korrigierter Lebenserwartung sind zum Beispiel verschiedene Berechnungen der Lebenserwartung ohne Einschränkungen wie Behinderung, Krankheit, Demenz, Aktivitätsverlust; engl. Disability-adjusted life expectancy (DALE), Health-adjusted life expectancy (HALE), Dementia-free life expectancy, active life expectancy. Übersichten liefern zum Beispiel [3] und [4].
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  • Dieses Fact Sheet fokussiert sich nachfolgend auf die Maße der verlorenen Lebenszeit, health gaps
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Maße der verlorenen Lebenszeit – Vorbemerkungen

     

  • Jedem einzelnen Gesundheitsmaß liegt eine spezifische Definition von Gesundheit und ihrer Beeinträchtigung zu Grunde, z. B.
    • Tod als Punkt, an dem Gesundheit aufhört
    • Gesundheit als Abwesenheit von Behinderung
    • Gesundheit als Abwesenheit von spezifischen Erkrankungen
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  • Daraus resultieren diverse methodische Grundlagen für die verschiedenen Maße
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  • Verschiedene Maße können daher verschieden sinnvolle Verwendungszwecke haben
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Vorzeitige Todesfälle

     

  • ein Todesfall gilt als vorzeitig, wenn er eintrat, bevor die Lebenserwartung der Person erreicht wurde
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  • meist wird diese Maßeinheit in Bezug auf einen bestimmten Risikofaktor angegeben, z. B.: Anzahl an Menschen, die aufgrund ihres Tabakkonsums vorzeitig gestorben sind.
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  • Dabei wird die Anzahl der Todesfälle für einen Risikofaktor mathematisch aus epidemiologischen Daten berechnet, genauer unter anderem aus relativem Risiko und attributablen Anteilen
    • Relatives Risiko: beschreibt generell, um welchen Faktor die Wahrscheinlichkeit/ das Risiko an einer bestimmten Krankheit zu erkranken erhöht ist, wenn man einem Risikofaktor ausgesetzt ist, im Vergleich zu jemandem, der diesem Risikofaktor nicht ausgesetzt ist.
    • Attributabler Anteil/ Attributiver Anteil: Wenn eine Krankheit, an der Menschen sterben, nicht nur von dem betrachteten Risikofaktor ausgelöst wird, sondern andere Ursachen haben kann, muss errechnet werden, wie groß der Anteil der Erkrankungen, also der Todesfälle, ist, der auf den betrachteten Risikofaktor zurückzuführen ist.
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  • Daraus ergeben sich einige Probleme:
    • Durch die statistische Berechnung der Todesfälle über eine Population hinweg, kann diese Zahl nur ausdrücken, ob ein betrachteter Risikofaktor zum Tod führt und nicht wann.
    • „vorzeitig“ berücksichtigt nämlich nicht, ob eine Frau einen Tag oder fünf Jahre vor ihrer eigentlichen Lebenserwartung gestorben ist. Der Tod im Alter von 30 Jahren würde gleich behandelt wie der Tod mit 70 Jahren. Für Krankheiten, die erst spät im Lebensalter zum Tod führen, übertreibt diese Maßzahl das Problem häufig.
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Verlorene Lebensjahre

     

  • engl. years of life lost (YLL); gebräuchliche Synonyme: potential years of life lost (PYLL); years of potential life lost (YPLL)
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  • betrachtet die Differenz zwischen Lebenserwartung und vorzeitigem Tod, also wie viele potentielle Lebensjahre durch den frühzeitigen Tod verloren gehen
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  • einer Krankheit, die früh zum Tode führt, werden damit mehr verlorene Lebensjahre zugerechnet. Eine Krankheit die erst im hohen Alter auftritt, sorgt für weniger verlorene Lebensjahre.
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  • Für die Berechnung der verlorenen Lebensjahre können je nach Fragestellung allerdings verschiedene Werte für die durchschnittliche Lebenserwartung herangezogen werden. Zum Beispiel:
    • das Alter, in dem 90 Prozent der Frauen und Männer schon verstorben sind
    • die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt (s. Beispiel unten)
    • die weitere Lebenserwartung, die ein Mensch je nach Alter zum Zeitpunkt der Untersuchung noch hat
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  • Beispiel: In Deutschland lag die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt für eine 1960 geborene Frau bei 72,4 Jahren [5]. Der vorzeitige Tod einer 30-Jährigen Frau würde also 42,4 verlorene Lebensjahre bedeuten, der Tod einer 70-Jährigen 2,4 verlorene Lebensjahre; insgesamt verursacht ein fiktiver Risikofaktor bei diesen beiden Frauen 44,8 verlorene Lebensjahre.
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  • Die Gesamtanzahl an verlorenen Lebensjahren einer Population für einen bestimmten Risikofaktor kann auf die Individuen der Population umgerechnet werden. Damit sind Aussagen möglich wie: Stickstoffdioxid verursachte 2014 in Deutschland (unter bestimmten Annahmen) 133.800 verlorene Lebensjahre [6], sprich circa 14,5 Stunden pro Einwohner in 2014.
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  • Kritik:
    • Verlorene Lebensjahre beziehen im Gegensatz zu vorzeitigen Todesfällen zwar den Zeitpunkt des Todes ein, betrachten aber weiterhin rein die Mortalität einer Population. Für eine umfassende Gesundheitsbewertung, zum Beispiel um die Belastung eines Gesundheitssystems zu bewerten, sollten auch Maße für die Krankheitslast einbezogen werden.
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Verlorene Lebensjahre durch Gesundheitseinschränkungen

     

  • engl. years lost due to disability (YLD)
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  • betrachtet die Lebensjahre, die nicht in voller Gesundheit, sondern in Einschränkung – wie Behinderung oder Erkrankung – gelebt wurde; betrachtet damit die Morbidität
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  • bildet die Basis für die Berechnung wichtiger zusammenfassender Gesundheitsmaße wie z. B. DALY, s.u.
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  • YLD werden getrennt für Geschlechter und für verschiedene Altersgruppen berechnet
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  • YLD können einerseits über die Inzidenz (Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum) und die Prävalenz (Gesamtzahl der Erkrankten zu einem bestimmtem Zeitpunkt) einer Krankheit berechnet werden. Zu den einzelnen Formeln sowie Vor- und Nachteilen siehe [2, S. 149-150]
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Beeinträchtigungs-bereinigte Lebensjahre

     

  • engl. disability-adjusted life years (DALY)
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  • misst, wie viele gesunde Lebensjahre durch einen bestimmten Risikofaktor verloren gehen können
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  • berechnet sich aus der Summe der verlorenen Lebensjahre (YLL) und den verlorenen Lebensjahren durch Gesundheitseinschränkungen (YLD)
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  • damit betrachtet das Maß sowohl Mortalität und Morbidität; worin ein großer Vorteil liegt
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  • entwickelt für den globalen Krankheitsatlas –  „Global Burden of Disease" [7] – der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der zum internationalen Vergleich der Belastungen von Gesundheitssystemen dient
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Ethische Probleme

     

  • Gesundheitsmaße dienen dem Zweck, Ressourcen im Gesundheitssystem zu verteilen und den Gesundheitszustand einer Bevölkerung zu verbessern.
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  • Sie folgen damit einem utilitaristischen Ansatz, die Summe der Gesundheit aller möglichst zu maximieren.
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  • Gesundheitsmaße enthalten stets eine Art der Bewertung von Leben, indem zum Beispiel ein später Tod weniger stark in die Statistik eingeht als ein früher Tod, und damit der Tod eines Greises als „weniger wert" angesehen werden könnte.
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  • Ethisch problematisch wird es auch, wenn in Gesundheitsmaße wie DALY eine Gewichtung eines bestimmten Alters oder Altersspannen eingerechnet wird, wie es von der WHO zu Beginn des „Global Burden of Disease" getan wurde. Gesundheitseinschränkungen und Tode in der Lebensmitte wurden stärker gewichtet, da sowohl ältere als auch jüngere Generationen von dieser Mitte der Bevölkerung abhängig seien (z. B. von der Zahl der Steuerzahler). Nach Kritik wurde diese Gewichtung aus der Berechnung entfernt.
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Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Schneider A et al. (2018): Quantifizierung von umweltbedingten Krankheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid-Exposition in Deutschland. Umweltbundesamt.

[2] Murray CJL et al. (2000): A critical examination of summary measures of population health. Bulletin of the World Health Organization, 78 (8), 981-994.

[3] Gmel G et al. (2006): Zusammenfassende Gesundheitsmaße von Sterblichkeit und Krankheit: Der steinige Weg zwischen PYLL, YLD, DALY and HALE. Suchttherapie, 7, 143-153.

[4] Czypionka T et al. (2016): Lebenserwartung ist nicht genug: Gesundheitsmaße im Vergleich. Health System Watch 03/2016.

[5] Statistisches Bundesamt – Statista: Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 1950 bis 2060 (in Jahren).

[6] Europäische Umweltagentur (2017): Air Quality in Europe – 2017 report. EEA Report 13/2017.

[7] World Health Organization: Global Burden of Disease.

Weitere Recherchequellen

Murray CJL et al. (2002): Summary measures of population health: concepts, ethics measurement and application. World Health Organization. ISBN 924 154 551 8.

Robins J et al. (1991): Estimability and estimation of expected years of life lost due to a harzardous exposure. Statistics in Medicine, Vol 10, 79-93.