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28.08.2020

Weiterentwicklung des Stromnetzes beim Ausbau der Erneuerbaren

Ein Diskussionspunkt beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland ist die Sicherheit der Stromversorgung durch die Stabilität der Stromnetze. Der Atomausstieg wird die Sicherheit der Stromnetze kaum beeinflussen – doch er könnte womöglich vorübergehend zu einem höheren CO2-Ausstoß führen, weil die Stromnetze nicht rechtzeitig fertiggestellt wurden. Das ist eine Einschätzung, die uns eine Forscherin und zwei Forscher auf die Frage nach den wichtigsten Themen und Entwicklungen der kommenden Jahren in den Energienetzen mit auf den Weg gegeben haben.
Der notwendige Netzausbau könnte sich dabei vielleicht durch eine neue Netzstruktur – zum Beispiel einem zellularen Energiesystem – verkleinern lassen. Dabei könnten einzelne Regionen zum Beispiel Verbrauch und Erzeugung bis zu einem gewissen Grad innerhalb ihrer Grenzen auspendeln. Den Ausbau von Langstrecken-Stromtransport von der Nordsee zu den Alpen werden solche Strukturen jedoch wohl nicht überflüssig machen. Es scheint sogar wünschenswert, auf europäischer Ebene eine Fernstrom-Transportebene anzudenken, um Windstrom von der Nordsee nach Süden oder Sonnenstrom aus Italien, Griechenland oder Spanien nach Norden zu verteilen.
Technik der Wahl ist dafür Hochspannungs-Gleichstrom, der sowohl an Strommasten wie auch in Kabeln unter der Erde transportiert werden kann. Ob sich diese Leitungen schon jetzt zu einem regelrechten Netz verknüpfen lassen, ist unklar. Auf der einen Seite fehlt noch immer der Nachweis, dass ein wichtiges Bauteil betriebssicher funktioniert, mit dem eine einzelne Hochspannungs-Gleichstrom-Leitung ausgeschaltet werden kann, ohne das ganze Gleichstromnetz herunterzufahren. Auf der anderen Seite macht es der Fortschritt der Halbleitertechnik unter Umständen möglich, auf so ein Bauteil zu verzichten, wenn Konverter aus diesen sogenannten Vollbrückenmodulen aufgebaut werden.
Aber auch am Betrieb des konventionellen Netzes wird die Energiewende nicht spurlos vorbeigehen: Konnten die Betreiber sich bis jetzt auf die tonnenschweren, rotierenden Massen von Generatoren und Turbinen verlassen, die das Netz durch die vielen kleinen Schwankungen am Tag führen, werden Wind- und Photovoltaik-Anlagen, aber auch Verbraucher zunehmend über Netzteile sozusagen angeschlossen: Halbleiterbauteile, die Gleichstrom in Wechselstrom umwandeln oder andersherum. Die jedoch können kleine Schwankungen ins Netz weitergeben, wo sich sie aufschaukeln könnten. Neue Steuerungen, Bauteile oder Betriebsweisen könnten hier Abhilfe schaffen, müssen jetzt jedoch erforscht werden.
Im Einzelnen haben wir diese Fragen gestellt:

1. Inwieweit ist der Netzausbau so weit vorangekommen, dass die Atomkraftwerke in Süddeutschland bis 2023 ohne Probleme für die Stabilität vom Netz gehen können?

2. Welches sind die größten Herausforderungen bei der Weiterentwicklung des Stromnetzes zu einem sektorübergreifenden Rückgrat der Energiewende für die Forschung und Entwicklung und warum?

3. Inwieweit bräuchte das Stromnetz in Zukunft eine andere Architektur oder eine andere Steuerung?

4. Inwieweit braucht Europa für den geplanten stärkeren Ausbau der Erneuerbaren Energien unter Umständen jetzt doch ein Overlay-Netz, und falls ja, in welcher Technik – Gleichstrom oder Höchstspannung größer als 380kV?

5. Wie weit ist die Entwicklung in Sachen Gleichstrom-Netz? Ist es inzwischen möglich, ein vermaschtes Netz (zum Beispiel für Offshore-Windparks in der Nordsee oder als Overlay-Grid in der EU) in Gleichstrom auszuführen, oder fehlen dabei noch wichtige Elemente?

6. Welche Rolle können digitale Stromzähler für die Energieversorgung in Zukunft wirklich, realistischerweise, übernehmen?

Mit diesem Angebot setzen wir unser Summerspecial fort, in dem wir nach dem Kurs der Energiewende fragen und die Gelegenheit nutzen wollen, nach der Entscheidung über den Kohleausstieg den Blick nach vorne zu werfen. 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Christian Rehtanz, Institutsleiter, Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3), Technische Universität Dortmund
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  • Prof. Dr. Jutta Hanson, Professorin und Leiterin des Fachgebiets Elektrische Energieversorgung unter Einsatz Erneuerbarer Energien, Technische Universität Darmstadt
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  • Dr. Thomas Benz, Geschäftsführer der Energietechnischen Gesellschaft im VDE (VDE ETG), Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik, Frankfurt am Main
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Statements der Expertinnen und Experten zu den Fragen

1. Inwieweit ist der Netzausbau so weit vorangekommen, dass die Atomkraftwerke in Süddeutschland bis 2023 ohne Probleme für die Stabilität vom Netz gehen können?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Der Netzausbau ist nach wie vor ein langwieriger Prozess von der Planung, über die Genehmigung bis zum eigentlichen Leitungsbau. Dieser schreitet Stück für Stück voran. Durch die Verzögerung des Netzausbaus werden beim Abschalten der Atomkraftwerke der Einsatz von Ersatzkraftwerken, Redispatchmaßnahmen und vermehrter europäischer Ausgleich als kostenintensive Maßnahmen die Systemstabilität gewährleisten. Die Integration erneuerbarer Energien wird hierdurch vermindert und die CO2-Emissionen temporär erhöht.“

Prof. Dr. Jutta Hanson

„Für die Stabilität der Stromnetze gibt es drei Aspekte: Erstens Netzengpässe: Wenn der Netzausbau zeitlich verzögert ist, muss die Stabilität des Netzes nach Abschalten der Kernkraftwerke bei Netzengpässen durch den verstärkten Einsatz von Einspeisemanagement und Maßnahmen zum Redispatch gewährleistet werden. Zweitens Spannungshaltung: Darüber hinaus wurden zusätzliche Kompensationsanlagen in das Netz eingebracht, um die Spannungshaltung des Netzes nicht zu gefährden. Drittens Verhalten bei Kraftwerksausfall: Es muss eine Mindesterzeugung aus konventionellen Kraftwerken zu jedem Zeitpunkt als Regelleistung im Netz vorhanden sein.“

Dr. Thomas Benz

„Der Ausbau des Übertragungsnetzes hinkt den Planungen deutlich hinterher. Die Übertragungsnetzbetreiber sind aber seit geraumer Zeit dabei, unter Zugrundelegung des sogenannten NOVA-Prinzips, das heißt Netzoptimierung vor Verstärkung vor Ausbau, das bestehende Netz zunächst zu optimieren. Hierzu werden Verfahren und Techniken angewendet, wie zum Beispiel der witterungsgeführte Betrieb von Freileitungen mit Hilfe von Leiterseil-Monitoring (Temperaturüberwachung der Stromleiter, Anm. d. Red.) oder die Lastflusssteuerung, zum Beispiel mit Hilfe von Phasenschiebertransformatoren, (Anlage, mit der der Stromfluss beeinflusst werden kann; Anm. d.. Red.) mit denen das bestehende Netz höher ausgelastet werden kann. Auch im Rahmen der Netzbetriebsführung kann zum Beispiel durch Anwendung von Verfahren zur Berechnung der Systemsicherheit in Echtzeit das Übertragungsnetz höher ausgelastet werden. Schließlich werden die Planungs- und Betriebsprozesse von Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber immer enger verzahnt.“

 

2. Welches sind die größten Herausforderungen bei der Weiterentwicklung des Stromnetzes zu einem sektorübergreifenden Rückgrat der Energiewende für die Forschung und Entwicklung und warum?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Die EU ist mit den Vorgaben des TYNDP (Ten Year Network Development Plan, ein vom Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber erarbeiteter Zehnjahresplan zur Entwicklung des EU-Stromnetzes; Anm. d. Red.) und den Netzkapazitätsvorgaben zwischen den Ländern auf dem richtigen Wege, sowohl die Marktintegration zwischen den Ländern als auch den Austausch und Ausgleich erneuerbarer Energien voranzutreiben. Übergeordnete Netzstrukturen bis hin zu länderübergreifenden Offshore-Netzen, Digitalisierung zur hochautomatisierten Netzsteuerung und automatisierten Marktintegration und Nutzung von Flexibilitäten bei Dargebot und Bedarf sind essenzielle Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für die nächsten Jahre.“

Prof. Dr. Jutta Hanson

„Für das Erreichen der Klimaziele sind neben der elektrischen Energieversorgung weitere Energiesektoren treibhausgasneutral zu gestalten, Beispiel Verkehrssektor oder auch Industrie. Dies führt zu einer ‚Verstromung‘ und damit zu einem gesteigerten elektrischen Energiebedarf. Hier gehen die Studien noch weit auseinander. Aufgrund fehlender Speichermöglichkeiten der volatil auftretenden erneuerbaren Energien ist die Kopplung mit weiteren Energienetzen, zum Beispiel Wärmenetz und Gasnetz, erforderlich. Forschung und Entwicklung werden derzeit durch Förderprogramme vorangetrieben. Neben der technisch notwendigen Entwicklung stellt die politisch-regulatorische Fragestellung die größte Herausforderung für den Einsatz dar.“

Dr. Thomas Benz

„Eine der größten Herausforderungen bei der Weiterentwicklung des Stromnetzes ergibt sich aus dem sich massiv verändernden Erzeugungsmix, der letztendlich zu einer Veränderung des Systemverhaltens des Übertragungsnetzes führt.“

„Mit dem Wegfall großer, zentral gelegener konventioneller Kraftwerke, dem weiteren Zubau Umrichter gespeister erneuerbarer Erzeugung und einer Zunahme praktisch trägheitsloser leistungselektronischer Lasten stellt sich zunehmend die Frage, welche ‚synchronen‘ Verhaltensweisen in Zukunft weiterhin benötigt werden, um das Übertragungssystem stabil zu halten.“

„Durch die zunehmende Verzahnung der Sektoren Strom, Wärme und Verkehr muss die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der elektrischen Energieübertragung mehr denn je umfangreichen Systembetrachtungen Rechnung tragen. Nur ganzheitliche Systembetrachtungen von multimodalen und multihybriden Systemstrukturen können für die weitere Netzentwicklung verwertbare und zuverlässige Aussagen liefern.“

„Die Übertragungsfähigkeit und Systemsicherheit zukünftiger Übertragungsnetze hängt in entscheidendem Maße von der Intelligenz der zukünftigen Netzführungssysteme ab. Der Automatisierungsgrad des Netzbetriebs muss daher in Richtung autonomer Systeme weiterentwickelt werden. Gleichzeitig sind hierfür neue und sichere IT- und Kommunikationssysteme zu entwickeln.“

„Auf der Betriebsmittelebene ist aus Akzeptanzgründen die weitere Forschung und Entwicklung der Übertragungstechnologien mit Erdverlegung von vorrangigem Interesse.“

„Schließlich bedingen erweiterte Systemstrukturen neue, erweiterte Simulationsverfahren und detailgenauere Modellierungen und Untersuchungen.“

 

3. Inwieweit bräuchte das Stromnetz in Zukunft eine andere Architektur oder eine andere Steuerung?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Der Ausgleich zwischen insbesondere volatiler Erzeugung und Verbrauch ist grundsätzlich dann optimal, wenn er in möglichst großen Regionen, wie zum Beispiel Europa, erfolgt – vorausgesetzt, dass die Netze vorhanden sind. Netze sind auch die kosteneffizienteste Ausgleichslösung. Kleinere Regionen, im Extremfall dezentrale Verteilnetzbereiche, würden einen deutlich höheren Ausgleichsaufwand mit zum Beispiel kostenintensiven Speichern erfordern.“

„Die Frage ist also zunächst, wie viel Netzausbau ist wirtschaftlich notwendig, um im europäischen Strommarkt den gewünschten Ausgleich zu erzielen und die erneuerbaren Energien einzubinden. Für seltene extreme gleichzeitige Last- oder Einspeisespitzen sollten die Netze allerdings nicht ausgebaut werden. Hierzu werden durchgängige Abregelungs- oder Marktmechanismen auf allen Netzebenen und in regionalen Teilnetzen benötigt, die die seltenen Überlastungen vermeiden und die Netze sicher betreibbar machen. Hierzu ist eine geeignete Digitalisierung und Automatisierung erforderlich. Somit sind automatische Mechanismen zur Teilnetzüberwachung zwingend erforderlich.“

Prof. Dr. Jutta Hanson

„Der Grundsatz für den Netzausbau sollte lauten: so zentral wie nötig, so dezentral wie möglich. Ich glaube nicht an großflächige leistungsautarke Regionen, also ohne Verbindung zu einem europäischen Energieversorgungsnetz.“

„Dennoch sollte die Leistung möglichst erzeugernah verbraucht werden. Das Verteilnetz und auch das Übertragungsnetz haben bereits geänderte Steuerungen (Beispiele: Verteilnetz: Regelbarer Ortsnetztransformator, Übertragungsnetz: Hochspanungs-Gleichstrom-Übertragung HGÜ).“

„Für den zukünftigen Netzbetrieb im Verteilnetz und im Übertragungsnetz stellt die Digitalisierung einen Freiheitsgrad dar, den man bezüglich neuer Regelungsmöglichkeiten und Netzstrukturen prüfen und nutzen sollte.“

Dr. Thomas Benz

„Bei zellularen Energiesystemen zum Beispiel wird das Gleichgewicht zwischen lokaler Erzeugung und lokalem Verbrauch auf den niedrigsten machbaren Ebenen angestrebt. Hierdurch ergeben sich wesentliche Chancen, den Besonderheiten regenerativer Energiequellen gerecht zu werden und diese bestmöglich in das Energieversorgungssystem zu integrieren.“

„Ein zellulares Energiesystem besteht aus aktiven Teilsystemen, die auf die Anforderungen des übergeordneten Gesamtsystems in geeigneter Weise reagieren können. Hierdurch ergeben sich neue Optionen für den Betrieb von Energiesystemen, die von der Bereitstellung von Systemdienstleistungen bis hin zum temporär autarken Betrieb von Teilsystemen reichen. Dieses Konzept trägt inhärent zur Erhöhung der Robustheit des Gesamtsystems bezüglich Systemstabilität und Versorgungszuverlässigkeit bei. Weiterhin fördert das Konzept die im Rahmen der Sektorenkopplung angestrebte Konvergenz zwischen Energieträgern.“

„Durch die lokale, bei größeren Anlagen auch regionale Organisation der Energiebereitstellung und -speicherung sowie der lokalen beziehungsweise regionalen Bilanzierung des Energiebedarfs, kann unter Nutzung netzdienlicher Flexibilitätsangebote aus den Zellen heraus Netzausbau reduziert werden. Durch die gegebene räumliche Trennung zwischen Erzeugungsanlagen im Norden und Verbrauchschwerpunkten im Süden wird in Deutschland auch weiterhin ein Energietransport von Nord nach Süd notwendig sein.“

 

4. Inwieweit braucht Europa für den geplanten stärkeren Ausbau der Erneuerbaren Energien unter Umständen jetzt doch ein Overlay-Netz, und falls ja, in welcher Technik – Gleichstrom oder Höchstspannung größer als 380kV?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Die Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien kann den sektorübergreifenden Bedarf nur im großen europäischen Ausmaß decken. Die überregionale Vernetzung von wind- und solarreichen Gebieten und auch länderübergreifenden Offshore-Netzen ist eine strategische und technische Herausforderung, die europaweit angegangen werden muss. Ein vereintes Europa gerade in diesen Zeiten und mit massiven wirtschaftlichen Förderinstrumenten hätte die Chance, optimale EE-Standorte, wie zum Beispiel für Solarenergie in Südeuropa, zu erschließen und die gemeinsame Leitungsinfrastruktur zur Nutzung zu errichten. Im Kern wäre hier die HGÜ-Technologie ein sehr zielführender Weg, da die Stabilität und Steuerbarkeit des Gesamtsystems bei hohen Übertragungskapazitäten verbessert werden kann.“

Prof. Dr. Jutta Hanson

„Man sollte die Wege, die man eingeschlagen hat, nicht gleich wieder hinterfragen, sondern konsequent weiterverfolgen beziehungsweise weiterentwickeln.“

„Für ein mögliches Overlay-Netz bedeutet dies: Die weiträumige Leistungsübertragung per HGÜ im synchronen Drehstromnetz wird derzeit umgesetzt. Diese Punkt-zu-Punkt-Verbindungen können in einem nächsten Schritt zu einem Gleichstrom (DC)-Netz erweitert werden, zunächst strahlenförmig, aber auch vermaschte Strukturen sollten geprüft werden.“

„Jetzt zu einer höheren Wechselstrom (AC)-Spannung zu tendieren, erscheint nicht konsequent (und nicht durchsetzbar).“

Dr. Thomas Benz

„Zweck eines Overlay-Netzes ist die Verbindung von Erzeugungszentren in Nord- (Wind) und Südeuropa (Solar) und Lastzentren und dem damit verbundenen Weitstreckentransport großer Mengen elektrischer Energie. Aufgrund der zeitweise hohen Auslastung des bestehenden Übertragungsnetzes würde ein Overlay-Netz unter anderem den Stromaustausch in einem europäischen Strombinnenmarkt erleichtern.“

„Für die Realisierung eines Overlay-Netzes bietet sich sowohl Gleich- als auch Drehstromtechnik an. Für die Übertragung großer elektrischer Leistungen über weite Strecken weist die Gleichstromtechnik gegenüber der Drehstromtechnik jedoch Vorteile hinsichtlich Wirtschaftlichkeit (geringere Übertragungsverluste) und eine höhere Übertragungsstabilität auf.“

 

5. Wie weit ist die Entwicklung in Sachen Gleichstrom-Netz? Ist es inzwischen möglich, ein vermaschtes Netz (zum Beispiel für Offshore-Windparks in der Nordsee oder als Overlay-Grid in der EU) in Gleichstrom auszuführen, oder fehlen dabei noch wichtige Elemente?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Die Gleichstromtechnologie schreitet seit Jahren weltweit mit immensen Entwicklungsschritten voran. Der Wettbewerb der Hersteller treibt die Innovation in diesem Bereich. Vermaschte Gleichstromnetze sind jedoch aktuell noch ein großer Entwicklungsschritt, der sorgfältig geplant werden muss. Nach der Vorstellung eines HGÜ-Leistungsschalters seitens eines Herstellers ist ein wichtiger Entwicklungsschritt erfolgt, der nun eine Systemplanung für HGÜ-Netze und erste Pilotinstallationen ermöglicht.“

Prof. Dr. Jutta Hanson

„Die Technik und die Komponenten sind prinzipiell verfügbar, müssen aber auf jeden Fall weiterentwickelt und auch weitergedacht werden. Es scheint sich um das ‚Henne-Ei Problem‘ zu handeln: Werden die Betriebsmittel nicht benötigt, werden diese nicht weiterentwickelt und umgekehrt. Zudem sind diese kostenintensiv. Somit muss die Vermaschung einen deutlichen Mehrwert gegenüber strahlenförmig ausgeführten DC-Netzen aufweisen.“

Dr. Thomas Benz

„Mithilfe moderner selbstgeführter HGÜ-Konverter mit Vollbrückenmodulen (Modular Multilevel Converter, MMC) wäre ein Gleichstromnetz schon heute realisierbar.“

„Für zukünftige Gleichstromsysteme, bei denen mehr als zwei Leistungsquellen und -senken betrieben werden sollen, wird es allerdings unabdingbar sein, dass ein entsprechendes Schaltgerät sowohl den Lastfluss wie auch Fehlerströme beherrschen können muss, denn nur so kann eine für den Netzbetrieb unabdingbare Selektivität gewährleistet werden. Nach heutigem Wissen wird dies auf Basis eines Hybrids aus Mechanik- und Halbleiterschalter möglich sein, die nach dem Prinzip der Gegenspannung arbeiten, während der Strom im Normalfall über einen niederohmigen Pfad zur Verlustbegrenzung geleitet wird. Jedoch sind die notwendigen Leistungsparameter solcher Schaltersysteme für den Betrieb von Multiterminalsystemen bisher nicht nachgewiesen.“

„Es werden aber auch noch eine Vielzahl an Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten benötigt, wie beispielsweise die Weiterentwicklung der HGÜ-Technologie und von Kunststoffkabeln für höhere Übertragungsspannungen und -leistungen sowie die Entwicklung gekapselter Schaltanlagen für Gleichspannungsanwendungen.“

 

6. Welche Rolle können digitale Stromzähler für die Energieversorgung in Zukunft wirklich, realistischerweise, übernehmen?


Prof. Dr. Christian Rehtanz

„Digitale Stromzähler dienen allein der effizienten Abrechnung. Die Schlüsselkomponente werden IT-Schnittstellen für alle Erzeuger und Lasten im Netz sein, um deren Flexibilität für den Markt nutzbar zu machen und Netzüberlastungen bei hoher Gleichzeitigkeit zu vermeiden. Das Smart Meter Gateway mit dem BSI-Schutzprofil könnte diese Funktionen übernehmen, schränkt jedoch den freien internationalen Technologiewettbewerb und damit die Innovation sowie die Kosteneffizienz durch Wettbewerb durch diesen rein deutschen Weg ein.“

Dr. Thomas Benz

„Erst die Verbindung mit einem sogenannten Smart-Meter-Gateway (SMGW) macht aus einem digitalen Stromzähler einen Smart Meter beziehungsweiseein intelligentes Messsystem. Ein digitaler Stromzähler allein hilft daher dem Energiesystem der Zukunft wenig.“

„Das Smart-Meter-Gateway ist die Kommunikationseinheit zwischen Messeinrichtung und Kommunikationsnetz, über die zum Beispiel Netzbetreiber, Stromlieferanten und Verbraucher die Informationen zu Erzeugung und Verbrauch erhalten, die sie benötigen. Das können zum Beispiel Netzzustands- und Verbrauchsdaten von den Elektrogeräten zu Hause und von der Solaranlage auf dem Dach sein.“

„Die sichere Steuerung von Anlagen über die Kommunikationsplattform soll die nötige Flexibilität ins Stromversorgungssystem bringen und zusätzlichen Netzausbau im Mittel- und Niederspannungsnetz reduzieren. Dazu müssen die Steuerfunktion und andere Anwendungen über die Plattform möglichst rasch nutzbar gemacht werden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V. (2019): Perspektiven der elektrischen Energieübertragung in Deutschland. Frankfurt am Main.