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11.11.2019

Kann gestörte Stressachse in der Pubertät normalisiert werden?

Die Fähigkeit, negative Emotionen zu regulieren, ist für die Kindesentwicklung essenziell. Heranwachsende, die weniger in der Lage sind, Angst und Frustration zu regulieren, haben ein erhöhtes Risiko, ihr Verhalten als Erwachsene schlechter kontrollieren zu können. Sie handeln in sozialen Stresssituationen häufiger aggressiv oder deviant. In einer Langzeitstudie testeten Forschende der Universität Minnesota-Twin Cities nun die Hypothese, ob durch eine traumatische frühe Kindheit ausgelöste Störungen im System der Stressbewältigung später in der Pubertät rekalibriert werden können. Zumindest dann, wenn Bezugspersonen in dieser Entwicklungsphase einen unterstützenden und verlässlichen Erziehungsstil pflegen. Die Forschenden verglichen dazu die Stress-Reaktionen von 129 in nichtamerikanischen Heimen aufgewachsenen Kleinkindern, die im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren von US-Eltern adoptiert wurden, mit der Stressbewältigung bei 170 Heranwachsenden, die als leibliche Kinder in amerikanischen Elternhäusern aufwuchsen.

Die Kinder und Jugendlichen wurden in unterschiedlichen Stadien der Pubertät jeweils einem Test für sozialen Bewertungsstress unterzogen, bei dem sie sich auf eine Präsentation vorbereiten und Rechenaufgaben lösen mussten in der Erwartung, dabei von Erwachsenen bewertet zu werden. Anhand von Speichelproben maßen die Autoren vor und nach diesem Trierer Sozial Stress Test jeweils die sogenannte Cortisolreaktivität, die Hinweise auf eine nicht ausbalancierte hormonelle Stress-Achse liefert. Bei Kindern, die aufgrund traumatischer Erlebnisse in ihrer Kindheit erschwert mit Stresssituationen umgehen können, ist der Cortisolwert in der Regel niedriger. Auf individueller Ebene stieg die Cortisolreaktivität der adoptierten Kinder entsprechend den fünf Stadien der Pubertät allmählich an und wurde dabei der Reaktivität der nicht adoptierten Heranwachsenden allmählich ähnlicher. Nach Ansicht der Autoren deuten diese Resultate darauf hin, dass Interventionen, die die Pflegeumgebung in der Pubertät verbessern helfen, eine in der frühen Kindheit verschobene Stress-Achse rekalibrieren können. Ob sich das auch im Verhalten der Jugendlichen niederschlägt, darüber kann die aktuelle Studie derzeit noch keine Aussage treffen.

Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ publiziert (siehe Primärquelle).

 

Statement

Prof. Dr. Robert Kumsta

Leiter Lehrstuhl für Genetische Psychologie, Fakultät für Psychologie, Ruhr-Universität Bochum

„Die Befunde sind durchaus überraschend und auch relevant für unser Verständnis langfristiger Folgen ungünstiger früher Lebensbedingungen. Es gibt zahlreiche Befunde, die zeigen, dass die Regulation der hormonellen Stress-Achse bis ins Erwachsenenalter nach aversiven Kindheitserfahrungen wie Misshandlung, Vernachlässigung oder Heimerfahrung gestört ist. Sowohl eine unzureichende als auch eine überschießende Cortisolantwort nach Stress werden beobachtet.“

„Die Befunde deuten nun darauf hin, dass es neben der frühen Kindheit, in der ungünstige Erfahrungen die Stressregulation ‚programmieren‘ können, mit der Pubertät eine weitere sensitive Phase zu geben scheint, in der eine Rekalibrierung (oder Reprogrammierung) erfolgen kann, sofern die Lebensumstände unterstützend, vorhersehbar und sicher sind.“

„Der benutzte Stresstest – der Trier Sozialstress Test – ist der Goldstandard für die Untersuchung der Stress-Reaktivität unter Laborbedingungen.“

„Vergleichbarkeit der Gruppen: In einem idealen Studiendesign hätte man die Kinder mit institutioneller Deprivationserfahrung mit Kindern derselben Ethnien verglichen, die ebenfalls in die USA adoptiert wurden aber eben keine Heimerfahrung hatten. Die Vergleichbarkeit der Gruppen ist bei den vorliegenden Befunden allerdings zweitrangig, da sich innerhalb der Gruppe der ehemaligen Heimkinder eine Veränderung der Stressreaktion im Laufe der Entwicklung zeigt – eben die mit Pubertät assoziierte Normalisierung der Stress-Reaktivität.“

„Die Ergebnisse sind überzeugend. Methodisch ist die Studie einwandfrei durchgeführt worden, vor allem der längsschnittliche Ansatz erlaubt robuste Aussagen, die bei Querschnittsuntersuchungen nicht uneingeschränkt getroffen werden können.“

„Die Frage ist, ob tatsächlich Defizite bei der Emotionsprozessierung beziehungsweise Emotionsregulation rekalibriert wurden. Die Studie macht lediglich eine Aussage über die Regulation der hormonellen Stress-Achse und zeigt eine Normalisierung der Cortisolantwort. Das kann – muss aber nicht zwingend – bedeuten, dass die subjektive Stressantwort ebenfalls verändert wurde. Es ist eher die Regel, dass unterschiedliche Indikatoren der Stressreaktion (hormonell, psychologisch, peripher-physiologisch) nicht miteinander zusammenhängen. Das macht die Befunde nicht weniger wichtig, denn eine veränderte Funktionsweise der hormonellen Stress-Achse ist auch für sich genommen ein nachgewiesener Risikofaktor für eine Reihe von psychischen und körperlichen Erkrankungen.“

„Eine Forschungsfrage, die sich anschließt, ist die Bedeutung der Rekalibrierung für die spätere Entwicklung. Die Frage ist also, ob eine solche Rekalibrierung beispielsweise vor psychischen Störungen wie Depression oder Angststörungen schützt, die bei ehemaligen Heimkindern vor allem zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr auftreten.“

„Es stellt sich außerdem die Frage, ob auch die Folgen extremer Deprivationserfahrungen umkehrbar sind. Unsere Ergebnisse der ‚English and Romanian Adoptees Study’, die ehemalige Heimkinder des Ceausescu-Regimes untersucht, zeigen beispielsweise, dass bei spät adoptierten Kindern, die zwischen sechs und 42 Monate in Heimen verbracht haben, im Vergleich zu den früh adoptierten, psychische Auffälligkeiten zumindest bis ins junge Erwachsenenalter stabil sind. Auch zeigen sich bei den spät adoptierten weiterhin nachweisbare Veränderungen der Cortisol-Regulation, und die Gehirne der jetzt jungen Erwachsenen sind signifikant kleiner [1].“

„Ein positiver Befund, der wiederum für eine bestehende Plastizität des Gehirns auch nach extremen Deprivationserfahrungen spricht, ist die Beobachtung, dass sich bei den spät adoptierten die kognitive Entwicklung normalisiert; sprich, der IQ ist zwischen Adoption und der Testung im jungen Erwachsenenalter im Schnitt um mehr als 15 Punkte angewachsen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Gunnar MR et al. (2019): Pubertal stress recalibration reverses the effects ofearly life stress in postinstitutionalized children. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1909699116.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Sonuga-Barke EJS et al. (2017): Child-to-adult neurodevelopmental and mental health trajectories after early life deprivation: the young adult follow-up of the longitudinal English and Romanian Adoptees study. The Lancet; 389(10078): 1539–1548. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)30045-4.

Weitere Recherchequellen

Ellis BJ et al. (2019): Development Adaption to Stress: An Evolutionary Perspective.Annual Review of Psychology; Vol 70:pp 111-139. DOI: 10.1146/annurev-psych-122216-011732.