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14.07.2022

Fehlendes Y-Chromosom im Alter kann zu Herzversagen führen

     

  • Blutstammzellen bei Männern verlieren im Alter häufig ihr Y-Chromosom
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  • Studie an Mäusen zeigt direkten Zusammenhang von Y-Chromosomenverlust mit Herzfibrose und Herzversagen
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  • Ergebnisse liefern mögliche Therapieoptionen gegen Herzfibrose im Alter bei Männern
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Der Verlust des Y-Chromosoms in Blutstammzellen von männlichen Mäusen, der auch bei Männern im höheren Alter vorkommt, führt zu Herzfibrose und daraus folgendem Herzversagen. Diesen direkten Zusammenhang in Mäusen präsentierte ein internationales Forscherteam um Kenneth Walsh aus den Vereinigten Staaten am 14.07.2022 im Fachjournal „Science“ (siehe Primärquelle).

Der mosaikartige Verlust des Y-Chromosoms (mLOY, mosaic loss of chromosome Y) ist die häufigste Chromosomenveränderung in den Blutzellen erwachsener Männer [I]. Hierbei verlieren einige Blutstammzellen im Alter das Y-Chromosom, wodurch im Blut eine mosaikartige Mischung aus Blutzellen entsteht, bei denen einige das Y-Chromosom besitzen und andere nicht. Bei 40 Prozent der 70-jährigen Männer ist mLOY nachweisbar. Der Anteil steigt mit zunehmendem Alter und durch Rauchen [II]. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass mLOY in engem Zusammenhang mit zahlreichen Erkrankungen steht, wie zum Beispiel klonaler Hämatopoese, Leukämie, soliden Krebserkrankungen, Alzheimer, kardiovaskulären Ereignissen sowie einem erhöhten Risiko, zu versterben [I][III][IV]. Der Verlust des Y-Chromosoms und das damit erhöhte Risiko zu erkranken und zu versterben, könnte erklären, weshalb Männer im Schnitt nicht so alt werden wie Frauen.

Um dem Mechanismus von mLOY auf Herzerkrankungen auf die Spur zu kommen, generierten die Forschenden Mäuse mit hämatopoetischen mLOY, also einem Y-Chromosomenverlust bei durchschnittlich 64,9 Prozent der Blutstammzellen. Diese Mäuse zeigten eine erhöhte Anfälligkeit für Herzfibrose. Bestimmte Immunzellen im Blut (Makrophagen), die sich aus den Blutstammzellen bilden und denen das Y-Chromosom fehlte, begünstigten laut den Forschenden die Fibrose, indem sie im Herzgewebe den Wachstumsfaktor TGFβ1 aktivierten. Wurde dieser Wachstumsfaktor durch einen monoklonalen Antikörper neutralisiert, konnte das den Prozess der Fibrose abdämpfen. Die Autoren spekulieren, dass man mithilfe dieses Antikörpers auch eine Herzfibrose bei Männern mit mLOY abwenden könnte.

Inwiefern mLOY nicht nur bei Mäusen, sondern auch bei Menschen Herzfibrosen hervorrufen kann, welche therapeutischen Konsequenzen daraus erwachsen und ob es weitere Stammzellen im Körper mit Mosaik-Chromosomenverlusten gibt, die altersbedingte Erkrankungen erklären könnten, erläutern Fachleute in den nachfolgenden Statements.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Lenhard Rudolph, Leiter der Forschungsgruppe Stammzellalterung, Leibniz-Institut für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI), Jena
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  • Prof. Dr. Elisabeth Zeisberg, Leiterin der Arbeitsgruppe Kardiales Stroma, Universitätsmedizin Göttingen
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  • Prof. Dr. Hartmut Geiger, Direktor des Instituts für molekulare Medizin, Universität Ulm
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  • Dr. Jan Korbel, Leitender Wissenschaftler und Co-Direktor der Partnership-Unit des EMBL und der Universität Heidelberg, European Molecular Biology Laboratory (EMBL)
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  • Prof. Dr. Andreas Zeiher, Außerordentlicher Professor für Kardiologie, Universitätsklinikum Frankfurt
    Herr Zeiher ist Autor des zur Publikation gehörenden Perspective (siehe bei Primärquelle).
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  • Prof. Dr. Thomas Thum, Direktor des Instituts für Molekulare und Translationale Therapiestrategien, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
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Statements

Prof. Dr. Lenhard Rudolph

Leiter der Forschungsgruppe Stammzellalterung, Leibniz-Institut für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI), Jena

„Es ist bereits bekannt, dass der Verlust des Y-Chromosoms in alternden Blutzellen bei Männern auftritt und dass dieser Verlust mit einem erhöhten Krankheitsrisiko assoziiert, insbesondere mit Erkrankungen des Herz-/Kreislaufsystems, aber auch mit Alzheimer-Erkrankung.“

„Das Neue an der jetzigen Studie ist, dass die zugrundeliegenden Mechanismen untersucht wurden, warum es in Antwort auf den Verlust des Y-Chromosoms in Blutzellen zu einer vermehrten Krankheitsentstehung im Alter kommt, insbesondere zur Entstehung von Herzerkrankungen.“

„Die Studie zeigt einen starken Zusammenhang zwischen der Höhe der Blutzellzahl, die einen Verlust des Y-Chromosoms aufweist, und der Erhöhung der Sterblichkeit des Menschen (die Forschenden der Studie werteten Daten der UK Biobank aus [V]; Anm. d. Red.). Wenn 40 Prozent der Blutzellen einen Verlust des Y-Chromosoms aufwiesen, war das Sterblichkeitsrisiko der Männer in den sieben Jahren nach der Untersuchung um 41 Prozent erhöht. Die Männer zeigten insbesondere ein erhöhtes Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu versterben.“

„Die Arbeiten zeigen, dass die Blutzellen, die sich in dem Herzgewebe niederlassen, besonders die Makrophagen, bei Verlust des Y-Chromosoms eine vermehrte Ausschüttung von Entzündungsmediatoren aufweisen. Dies führt zur Fibrose des Herzmuskels und zum Funktionsverlust des Herzens. Dabei spielt eine Aktivierung des TGF-beta Gens eine wichtige Rolle. Dieses Gen wirkt pro-fibrotisch. Die Studie zeigt, dass die Hemmung des Gens die Fibrose des Herzens bei Mäusen aufhalten kann.“

Auf die Frage, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus den Befunden ergeben könnten, wenn Sie auch bei Männern bestätigt werden:
„Wenn ähnliche Mechanismen bei Männern für die Erhöhung des Sterblichkeitsrisikos verantwortlich sind, könnte eine antientzündliche Therapie, insbesondere die Hemmung von TGFb1, die Krankheitsentstehung bei Risikopersonen – also bei Männern, die einen hohen Anteil von Blutzellen mit Y-Chromosomenverlust aufweisen – vermindern.“

Auf die Frage, ob es weitere Stammzellen im Körper mit Mosaik-Chromosomenverlusten gibt, die altersbedingte Erkrankungen erklären könnten:
„Ja, davon ist auszugehen. Welche Organe eventuell betroffen sind, muss jetzt untersucht werden.“

Prof. Dr. Elisabeth Zeisberg

Leiterin der Arbeitsgruppe Kardiales Stroma, Universitätsmedizin Göttingen

„Neben Lebensgewohnheiten und steigendem Alter ist das männliche Geschlecht per se ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Männer erkranken deutlich häufiger an den häufigsten Herzkrankheiten als Frauen und die Sterblichkeit nimmt mit dem Alter überproportional zu.“

„Die Arbeitsgruppe um Kenneth Walsh von der amerikanischen University of Virginia School of Medicine zeigt in ihrer Studie erstmals einen direkten Bezug dieser klinischen Beobachtung zum Verlust des Y-Chromosoms in einem Teil der Blutzellen (‚mosaic loss of Y chromosome‘ oder ‚mLOY‘). Sie weist gleichzeitig die Kausalität dieses mLOY in einem Mausmodell nach: Gesunde Mäuse, die mit Knochenmark transplantiert wurden, bei deren Blutzellen das Y-Chromosom künstlich teilweise ausgeschaltet wurde, wiesen im Verlauf eine erhöhte Vernarbung (‚Fibrose‘) des Herzens, aber auch der Lunge und der Niere auf. Die Nager in dem Experiment zeigten zudem eine reduzierte Herzfunktion und eine erhöhte Sterblichkeit.“

„Da mehrere Studien bei Männern bereits eine Assoziation von mLOY mit einer erhöhten Sterblichkeit gezeigt haben, und sich insbesondere in einer Population von 223.338 über 50-jähriger Männer in der UK Biobank zudem eine Assoziation von mLOY mit kardiovaskulären Erkrankungen nachweisen ließ, ist es wahrscheinlich, dass die neuen Daten, die in der Maus erhoben wurden, auch auf den Menschen übertragbar sind. Es ist gut möglich, dass diese Studie eine Vorreiterstudie für viele weitere sein wird und nur die ‚Spitze des Eisbergs‘ aufzeigt bei der Frage, welche Rolle Mosaik-Chromosomenverluste in Stammzellen für die Pathogenese verschiedener Organe spielen. Die retrospektive Analyse von Patienten zeigt eine sehr gute Korrelation mit den tierexperimentellen Daten.“

„Prospektive Analysen oder Daten dazu, wie der Zeitverlauf der Entstehung von mLOY mit der Initiierung und Progression der Fibrose assoziiert ist, gibt es derzeit allerdings noch nicht. Die Studie zeigt, dass das Fehlen der auf dem Y-Chromosom identifizierten Gene die klassischen Fibrosesignalwege (Transforming Growth Factor ß, TGFß) aktiviert. Unklar ist bisher noch, wie genau diese Aktivierung vonstattengeht.”

“Die größte offene Frage lautet: Was ist mit Frauen? Wenn nur der Verlust, nicht aber das primäre Fehlen des Y-Chromosoms einen Krankheitswert hat, dann würde dies bedeuten, dass der Entzug des Y-Chromosoms ein Problem darstellt, das primäre Fehlen eines Y-Chromosoms aber nicht. Zu verstehen, warum das so ist, wird zukünftig relevant sein, um therapeutische Konsequenzen aus der Studie abzuleiten.“

Prof. Dr.Hartmut Geiger

Direktor des Instituts für molekulare Medizin, Universität Ulm

„Neu und sehr überzeugend an dieser Studie ist, dass es gelang, einen kausalen Zusammenhang tatsächlich nachzuweisen. Eine mögliche Verbindung hatte man schon vorher vermutet. Die tolle Leistung dieser Arbeit ist, diesen möglichen Zusammenhang nun experimentell bestätigen zu können. Das klingt einfach, ist aber in der Tat sehr aufwändig und kompliziert, und war hier nur mit neuesten Methoden wie CRISPR-Cas möglich.“

Auf die Frage, wie übertragbar die Ergebnisse bei den Nagetieren auf den Menschen sind:
„Die generelle Funktion des Y-Chromosoms ist beim Nager (Maus) und dem Menschen relativ identisch, und das Design des Nagermodell war direkt an der menschlichen Krankheit ausgerichtet. Daten aus der Nagerstudie konnten auch in menschlichen Kohorten bestätigt werden. Die Studie ist auch auf aufgrund dieser guten Bestimmung der Übertragbarkeit auf den Menschen so wertvoll.“

„Die Studie konnte leider noch nicht darlegen, wie der Verlust des Y-Chromosoms zur Veränderung der Fresszellen und der Fibrose führt. Man weiß also nicht, welches Gen/welcher Teil/welche Funktion des Y-Chromosoms so wichtig ist, dass, wenn es nicht da ist, es zur Veränderung vor allem in den Fresszellen führt. Da muss noch viel daran gearbeitet werden und es wird sicher nicht einfach zu beantworten sein. Die Studie konnte jedoch zeigen, dass der Verlust des Y-Chromosoms in den Fresszellen einen Entzündungsmarker (TGFb1) aktiviert. Das Gen für TGFb1 liegt jedoch nicht auf dem Y-Chromosom.“

Auf die Frage, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus den Befunden ergeben könnten, wenn sie auch bei Männern bestätigt werden:
„Die Befunde sind ja schon in Männern bestätigt worden. Der Verlust des Y-Chromosoms in Blutzellen bleibt jedoch weiterhin nur ein Grund für Herzerkrankungen im Alter. Andere Risikofaktoren bleiben natürlich weiterhin bestehen. Die therapeutischen Möglichkeiten müssen in der Tat noch weiterentwickelt werden, da der Verlust des Y-Chromosoms wohl eine sehr komplexe Kaskade an Veränderungen auslöst, wir jedoch für eine therapeutische Umsetzung der Ergebnisse eher ein einfaches, singuläres Target benötigen.“

Auf die Frage, ob es weitere Stammzellen im Körper mit Mosaik-Chromosomenverlusten gibt, die altersbedingte Erkrankungen erklären könnten:
„Die Studie hat sich gezielt mit Mosaik-Chromosomenverlusten in Zellen des Bluts beschäftigt, da dies dort schon gut untersucht wurde. Generell liegen in diesen Zellen mit zunehmendem Alter mehrere starke Veränderungen (Verlust ganzer Teile, Verschieben ganzer Teile) an Chromosomen vor. Ein generelle Möglichkeit ist daher, dass die Organisation/Infrastruktur des Zellkern durch solche großflächigen chromosomalen Veränderungen an sich gestört ist, und dies zur Fehlfunktion führt. Wir wissen jedoch noch sehr wenig darüber, ob und wie Mosaik-Chromosomenverlust in Stammzellen außerhalb des Blut-zellbildenden Systems stattfindet und welche möglichen Konsequenzen daraus entstehen. Da gibt es noch viel zu tun, das Konzept ist aber sehr spannend.“

Dr. Jan Korbel

Leitender Wissenschaftler und Co-Direktor der Partnership-Unit des EMBL und der Universität Heidelberg, European Molecular Biology Laboratory (EMBL)

„Dies ist eine hochinteressante Studie, die durch den cleveren Einsatz eines Tiermodells die höhere Sterblichkeit von Männern im Vergleich zu Frauen im Alter zumindest zum Teil erklären könnte. Das Y-Chromosom ist das kleinste menschliche Chromosom und enthält nur wenige Gene. Zudem ist die DNA des Y-Chromosoms von Mann zu Mann hochvariabel, denn es zeigt eine Anreicherung von genetischen Variationen. Vermutlich aus diesen Gründen wurde dieses Chromosom in der humangenetischen Forschung bisher oft vernachlässigt. Der Verlust des Y-Chromosoms in den Zellen des blutbildenden Systems ist eine der häufigsten Mutationen bei Männern – diese Mutation führt im Alter zum teilweisen Verlust des Y-Chromosoms (Mosaizismus) im Blut von Männern.“

„Die präsentierten Daten der Studie sind sehr spannend, denn sie liefern im Tiermodell erstmals direkte Hinweise darauf, dass der Verlust des Y-Chromosoms im Alter bei Männern zu schweren Erkrankungen des Herzens führen kann. Die Ergebnisse sind auch für die weitere Erforschung von Präventionsmaßnahmen von Herzerkrankungen interessant – denn im Tiermodell ließen sich die beobachteten Herzerkrankungen durch den Einsatz therapeutischer Antikörper teilweise beheben. Derzeit ist es nicht möglich, die Daten aus dem Mausmodell direkt auf Menschen zu übertragen. Allerdings zeigen die Ergebnisse einen möglichen Ansatz auf, dem nun weiter nachgegangen werden könnte.“

Prof. Dr. Andreas Zeiher

Außerordentlicher Professor für Kardiologie, Universitätsklinikum Frankfurt
Herr Zeiher ist Autor des zur Publikation gehörenden Perspective (siehe bei Primärquelle).

„Die Arbeit zeigt erstmals einen Mechanismus auf, über den der Verlust des Y-Chromosoms den Bindegewebs-Umbau des Herzens vermittelt und damit zur Herzschwäche führt. Bisher war bereits bekannt, dass ein Verlust des Y-Chromosoms mit einer erhöhten Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch anderen Alters-assoziierten Erkrankungen einschließlich Alzheimer oder Tumor-Erkrankungen einhergeht. Der Verlust des Y-Chromosoms ist die häufigste Mutation, die in den zirkulierenden weißen Blutkörperchen im Laufe des Lebens auftritt. Etwa 40 bis 50 Prozent der Männer über 70 Jahre alt weisen diese Mutation auf.“

„Über die Funktion des Y-Chromosoms mit Ausnahme der Bestimmung des Geschlechts ist sehr wenig bekannt, es ist auch das kleinste Chromosom mit relativ wenigen Genen darauf. Umso überraschender der jetzt erhobene und gut dokumentierte Befund, dass der Verlust des Y-Chromosoms im Tiermodel mit einem bindegewebigen Umbau des alternden Herzens einhergeht. Dieser wird noch massiv verstärkt, wenn das Herz durch eine Verengung des Blutausflusses aus dem Herzen belastet wird, entsprechend einer sogenannten Aortenstenose (Herzfehler, bei dem der Auslass aus dem Herzen in die Körperhauptschlagader (Aorta) verengt ist; Anm. d. Red.) bei Patienten. Der bindegewebige Umbau führt zum einen zu einem Verlust der kontrahierenden Muskelzellen und damit zu einer Reduktion der Pumpfunktion des Herzens, gleichzeitig wird das Herz dadurch steifer und füllt sich schlechter mit Blut, was die Herzschwäche noch weiter verstärkt.“

„Die Assoziation des Verlustes des Y-Chromosoms mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist schon länger bekannt. Auch in dieser Studie wurde an einem großen Patientenkollektiv aus der UK Biobank diese Assoziation erneut bestätigt. So geht ein Verlust des Y-Chromosoms in mehr als 40 Prozent der weißen Blutkörperchen mit einer 31-prozentigen Erhöhung der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen einher, und dies insbesondere durch Bluthochdruck und Herzschwäche. Der Verlust des Y-Chromosoms als Risikofaktor für Männer, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben, ist also vergleichbar mit den klassischen Risikofaktoren Diabetes oder Erhöhung der Blutfette, allerdings über einen ganz anderen Mechanismus. Und natürlich bietet der Befund eine weitere Erklärung für die sehr strenge Korrelation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit zunehmendem Alter.“

„Nun gilt es zu klären, welche Risikofaktoren zum Verlust des Y-Chromosoms beitragen. Sind das dieselben, die auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen? Gibt es hierbei spezifische Interventionsmöglichkeiten, um den Y-Chromosomenverlust aufzuheben? Ist zum Beispiel regelmäßige körperliche Aktivität geeignet, diesen Prozess zu beeinflussen? Eine Menge Fragen werden sich hier auftun in der Zukunft.“

„Mechanistisch liegt dem bindegewebigen Umbau des Herzens zugrunde, dass die zirkulierenden weißen Blutkörperchen, die aus den mutierten Stammzellen im Knochenmark stammen, sich im Herzgewebe festsetzen und dort Gene ankurbeln, die zum einen für die Bindegewebsbildung – der Fibrose – in den Zellen selbst verantwortlich sind, zum anderen aber auch andere Zellen im Herzen, die sogenannten Fibroblasten, aktivieren, die für die Bildung von Bindegewebe verantwortlich sind. Der genaue Mechanismus dieser Aktivierung ist allerdings noch nicht dezidiert erforscht.“

„Da die zirkulierenden Zellen sämtliche Organe im Körper erreichen, ist zu erwarten, dass dieser Mechanismus auch zur Fibrose der Lunge und zum Beispiel der Nieren führt – zwei klassische Alters-assoziierte Phänomene.“

Auf die Frage, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus den Befunden ergeben könnten, wenn sie auch bei Männern bestätigt werden:
„Sogenannte ‚anti-fibrotische‘ Medikamente sind derzeit umfangreich in der klinischen Testung, sodass sich hier ein möglicher therapeutischer Ansatz hinsichtlich der Konsequenzen des Y-Chromosomenverlustes ergibt. Sinnvoll wäre es natürlich, den Verlust des Y-Chromosoms selbst in den Knochenmarkstammzellen zu beeinflussen oder die daraus resultierenden zirkulierenden weißen Blutkörperchen therapeutisch anzugehen. Dies ist allerdings derzeit noch weit von einem klinischen Einsatz entfernt, jedoch umfangreicher Gegenstand der Forschung.“

Auf die Frage, ob es weitere Stammzellen im Körper mit Mosaik-Chromosomenverlusten gibt, die altersbedingte Erkrankungen erklären könnten:
„Neben dem Verlust des Y-Chromosoms gibt es insbesondere noch die sogenannte klonale Hämatopoese als häufigste im Laufe des Lebens erworbene Mutation der Knochenmarkstammzellen. Hierbei handelt es sich um Mutationen insbesondere in Genen, die eigentlich für das Auftreten von Leukämien verantwortlich sind. Diese Mutationen verschaffen – wie auch der Verlust des Y-Chromosoms – den Stammzellen einen Überlebens- und Produktionsvorteil, sodass daraus zahlreiche sogenannte Klone entstehen, die ins zirkulierende Blut als mutierte Blutzellen freigesetzt werden und sämtliche Organe erreichen können. Auch diese klonale Hämatopoese ist Alters-assoziiert, je nach Messgenauigkeit kann man bei fast allen Menschen im Alter über 70 Jahren kleinere Mengen dieser Klone nachweisen. Erfreulicherweise führt dies zwar in den wenigsten Fällen tatsächlich zur Leukämie, ist jedoch der Prozentsatz der mutierten weißen Blutkörperchen größer als zwei Prozent, geht dies mit einer erhöhten Sterblichkeit der klassischen Herz-Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt, Herzschwäche und Aortenklappeneinengung einher, aber auch andere Alters-assoziierte Erkrankungen wie Osteoporose, Leberumbau oder chronisch obstruktive Lungenerkrankungen werden dann häufiger beobachtet. Es wird nun interessant sein zu untersuchen, inwieweit klonale Hämatopoese und Verlust des Y-Chromosoms sich gegenseitig beeinflussen oder gar bedingen, und inwieweit das kombinierte Auftreten dieser klassischen Alters-assoziierten Veränderungen der zirkulierenden Blutzellen bei Männern sich additiv auf Sterblichkeit und Krankheitsschwere insbesondere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auswirken.“

Prof. Dr. Thomas Thum

Direktor des Instituts für Molekulare und Translationale Therapiestrategien, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

„Die Hypothese, dass es eine mögliche direkte Verbindung zwischen dem Y-Chromosomenverlust und einer altersbedingten Fehlfunktion des Herzens bei Männern gibt, wird in der Tat schon länger vermutet. Ein experimenteller Beweis fehlte hier aber bislang. Insofern sind die Ergebnisse der vorliegenden Studie ein wichtiger Meilenstein in der Beweisführung mit einer wichtigen Schlussfolgerung: Männer mit Verlust des Y-Chromosoms sollten engmaschiger auf Organfibrosen überprüft werden und entsprechend mit derzeit vorhandenen und in der Zukunft noch weiter entwickelten anti-fibrotischen Medikamenten behandelt werden.“

Auf die Frage, wie übertragbar die Ergebnisse bei den Nagetieren auf den Menschen sind:
„Dies ist in der Tat ein Schwachpunkt dieser Studie. Ob die Daten eins zu eins übertragbar sind, ist nicht klar. Weitere Hinweise könnten zum Beispiel Zellkulturexperimente mit iPSC-abgeleiteten menschlichen Herzzellen, in denen das Y-Chromosom genetisch ausgeschaltet wurde, liefern. Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse von der Maus auf den Menschen ist aber denkbar.“

„Umgangssprachlich wird das Y-Chromosom auch als ‚genetisches Ödland‘ bezeichnet, weil es relativ ‚gen-arm‘ ist und viele sogenannte repetitive, also sich wiederholende Elemente besitzt. Dennoch wurde das Y-Chromosom immer wieder als potenzielle ‚Blaupause für die Männergesundheit‘ beschrieben. Relativ gut beschrieben sind Zusammenhänge zwischen dem Y-Chromosom und dem Immunsystem, das welches wiederum einen direkten Einfluss auf Entzündungsreaktionen bei Männern hat. Der Verlust des Y-Chromosoms könnte daher womöglich zu einem eher erhöhten ‚Entzündungszustand‘ führen, welcher wiederum Fibrose-Prozesse befeuert.“

Auf die Frage, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus den Befunden ergeben könnten, wenn sie auch bei Männern bestätigt würden:
„Hier möchte ich zwei Dinge erwähnen: Zum einen sollten solche Patienten in engeren Zeitabständen auf mögliche Organfibrosen und Organfehlfunktionen untersucht werden. Für das Herz würde das regelmäßige echokardiographische Kontrollen bedeuten. Falls frühzeitig dann eine Herzschwäche gefunden wird, sollte nach aktuellen Leitlinien der Herzinsuffizienz behandelt werden. Es gibt derzeit auch einige sehr vielversprechende Substanzgruppen der sogenannten nicht-kodierenden RNA-Therapeutika, die sich derzeit in klinischen Phase-II-Studien zur Therapie der Organfibrosen befinden (zum Beispiel miR-21 bei Nierenfibrose und miR-132 bei Herzschwäche/Herzfibrose).“

Auf die Frage, ob es weitere Stammzellen im Körper mit Mosaik-Chromosomenverlusten gibt, die altersbedingte Erkrankungen erklären könnten:
„Die Datenlage dazu ist noch sehr spärlich, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass dies so ist.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr.Hartmut Geiger: „Keine.“

Dr. Jan Korbel: „Keine.“

Prof. Dr. Andreas Zeiher: „Ich habe keinen conflict-of-interest mit der in Science erscheinenden Arbeit.“ 

Prof. Dr. Thomas Thum: „Ich bin Gründer und Gesellschafter der Cardior Pharmaceuticals GmbH, einem deutschen Biotech-Unternehmen, das RNA-basierte Therapien für Herzerkrankungen entwickelt.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Sano S et al. (2022): Hematopoietic loss of Y chromosome leads to cardiac fibrosis and heart failure mortality. Science. DOI: 10.1126/science.abn3100.

Zeiher A et al. (2022): Mosaic loss of Y chromosome during aging. Science. DOI: 10.1126/science.add0839.
Dieses Perspective erscheint parallel zu der Primärquelle.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Zhang Q et al. (2022): Mosaic loss of chromosome Y promotes leukemogenesis and clonal hematopoiesis. JCI Insight. DOI: 10.1172/jci.insight.153768.

[II] Dumanski JP et al. (2015): Mutagenesis. Smoking is associated with mosaic loss of chromosome Y. Science. DOI: 10.1126/science.1262092.

[III] Dumanski JP et al. (2016): Mosaic loss of chromosome Y in blood is associated with Alzheimer disease. American Journal of Human Genetic. DOI: 10.1016/j.ajhg.2016.05.014.

[IV] Forsberg LA et al. (2014): Mosaic loss of chromosome Y in peripheral blood is associated with shorter survival and higher risk of cancer. Nature Genetics. DOI: 10.1038/ng.2966.

[V] Loftfield E et al. (2018): Predictors of mosaic chromosome Y loss and associations with mortality in the UK Biobank. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-018-30759-1.

Weitere Recherchequellen

Fukami M et al. (2021): Mosaic loss of the Y chromosome and men's health. Reproductive Medicine and Biology. DOI: 10.1002/rmb2.12445.
Dieses Review gibt einen guten Überblick über mLOY in älteren aber auch jungen Männern und welchen Einfluss es auf die Entwicklung der Betroffen hat. Darüber hinaus liefert das Review auch noch Grundlagen zu Verlusten anderer Chromosomen.