Zum Hauptinhalt springen
31.07.2019

Chip ebnet angeblich Weg für Artificial General Intelligence

Eine chinesische Forschergruppe hat einen elektronischen Chip entwickelt, der ihrer Aussage nach die zwei derzeit existierenden, unterschiedlichen Ansätze zur Entwicklung einer Artificial General Intelligence (AGI) nebeneinander laufen und miteinander kommunizieren lassen kann: den neurowissenschaftlichen Ansatz (in Form von Spiking Neural Networks) und den Ansatz aus dem Bereich der Computer Science (in Form von Artificial Neural Networks). Der neurowissenschaftliche Ansatz, so die Autoren, versucht das Gehirn auf Grundlage der Erkenntnisse der Neurowissenschaften nachzuahmen, der eher computerwissenschaftlich orientierte Ansatz verwendet Algorithmen des maschinellen Lernens.

Die Forscher um Luping Shi behaupten, die Kombination beider Ansätze in einem Chip könnte die Entwicklung einer AGI vorantreiben.

Dazu stellen sie als Anwendung ein selbstfahrendes Fahrrad vor, das den Chip nutzt und unter anderem Objekt- und Spracherkennung einsetzt. Das Fahrrad reagiert direkt auf Sprachbefehle, kann Personen erkennen, ihnen folgen und Hindernissen ausweichen. In einem Video demonstrieren sie seine Fahreigenschaften.

Die Ergebnisse sind im Fachjournal „Nature“ erschienen (siehe Primärquelle).

 

Übersicht

  • Prof. Dr. Florian Gallwitz, Professor Medieninformatik, Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm
  • Prof. Dr. Marcus Liwicki, Leiter der Machine Learning Group, Luleå University of Technology, Schweden
  • Prof. Kristian Kersting, Leiter des Fachgebietes Maschinelles Lernen, Fachbereich Informatik und Centre for Cognitive Science, Technische Universität Darmstadt

Statements

Prof. Dr. Florian Gallwitz

Professor Medieninformatik, Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm

„Der Begriff AI (‚Künstliche Intelligenz‘) war noch nie vernünftig definiert und wird inzwischen für nahezu alles verwendet, was mit Informatik zu tun hat und nicht bei drei auf dem Baum ist. Das ‚G‘ im Begiff AGI wurde dann vor einigen Jahren eingefügt, um deutlich zu machen, dass es hier nun tatsächlich doch wieder um menschenähnliche oder übermenschliche Intelligenz gehen soll, auch wenn die Frage offen bleibt, was Intelligenz eigentlich genau sein soll. Der eingefügte Begriff ‚general‘ ist unglücklich gewählt, weil er übersieht, dass auch das menschliche Gehirn nicht ‚allgemein intelligent‘ ist, sondern hochgradig spezialisiert auf die Anforderungen des Überlebens in den Umgebungsbedingungen, die er im Laufe seiner Evolution vorgefunden hat.“

„Einen Computer mit menschenähnlicher Intelligenz und Anpassungsfähigkeit würde ich, wie die meisten Forscher in diesem Bereich, auch in den kommenden Jahrzehnten noch nicht erwarten. Es sind einfach noch viel zu viele fundamentale Fragen auf dem Weg dorthin vollkommen ungeklärt.“

„Mit AGI hat der Artikel nach meinem Eindruck überhaupt nichts zu tun. Vorgestellt wird ein spezialisierter Chip, der künstliche neuronale Netze schnell und mit geringem Energiebedarf ausführen kann. Solche Chips gibt es bereits heute, zum Beispiel in modernen Smartphones.“

„Bisher gibt es zwei konkurrierende Ansätze, solche Chips zu realisieren. Der dominierende, klassische Ansatz basiert auf den gleichen Rechenvorgängen, die sonst vorwiegend auf leistungsstarken Grafikkarten ausgeführt werden. Ein alternativer, auch schon viele Jahrzehnte alter Ansatz sind sogenannte gepulste neuronale Netze (Spiking Neural Networks, SNN, von den Autoren als ‚neurowissenschaftlicher Ansatz‘ bezeichnet). Diese orientieren sich etwas stärker an der biologischen Funktionsweise des Gehirns. Sie haben vor allem den Vorteil, dass sie unter bestimmten Umständen deutlich weniger Energie benötigen als der klassische Ansatz. Jedes fertig trainierte klassische neuronale Netz lässt sich bei Bedarf in ein SNN umwandeln. Die Besonderheit des neuen Chips besteht darin, dass er neuronale Netze beider Typen gleichzeitig ausführen kann.“

„Das unbemannte Fahrrad ist wohl als Proof of Concept zu verstehen. Alles, was dort gezeigt wird, wurde so oder so ähnlich auch schon ganz ohne Spezialhardware realisiert.“

Auf die Frage, wie die Prämisse der Autoren zu bewerten ist, die „Zusammenarbeit“ des neurowissenschaftlichen Ansatzes und des computerwissenschaftlichen Ansatzes sei eine wichtige Voraussetzung für AGI:
„Ich kann nicht erkennen, warum die Autoren ihren neuen Chip überhaupt in Zusammenhang mit dem Begriff AGI gestellt haben.“

Prof. Dr. Marcus Liwicki

Leiter der Machine Learning Group, Luleå University of Technology, Schweden

„In dem Science Artikel ‚Towards artificial general intelligence with hybrid Tianjic chip architecture‘ stellen die Autoren der Tsinghua Universität in Peking in Zusammenarbeit mit anderen Forschern aus China, USA und Singapur einen neuen Chip vor, der viele aktuelle Computer-Architekturen effizient implementiert. Ich bin zwar Experte im Bereich neuronaler Netze und KI, jedoch nicht in Chip-Architekturen, worin offensichtlich der wesentliche Beitrag des Papieres besteht – und dieser ist enorm. Aus KI-Sicht ist der Tianjic Chip ein nötiger weiterer Schritt, der noch mehr Experimente ermöglicht, jedoch bringt uns der Chip nicht methodisch weiter in Richtung AGI.“

„Auf der ‚International Joint Conference on Neural Networks‘ in Budapest, Ungarn vom 14. bis 19. Juli 2019, wurde intensiv über AGI diskutiert. Theoretisch gibt es kaum Fortschritte, praktisch gibt es einige sehr schöne Dinge, bei denen der Bezug zu AGI jedoch noch sehr holprig ist. Ich schließe mich Ramamoorthy und Yampolskiy an: ‚Yet true AGI remains out of reach.‘ [1] Es wird noch lange dauern, bis sich dort etwas bewegt. Raymond Kurzweil hatte in seinen Vorhersagen von 2015-2045 gesprochen (das optimistische 2015 ist schon vorbei), andere Forscher von 2030; da noch theoretische Grundprobleme gelöst werden müssen (Realisierung von Common Sense, selbst-motiviertes Lernen, Trustworthyness, Responsibility, Governance), denke ich, dass es noch sehr viel Zeit beanspruchen wird.“

„AGI ist ein Hype-Begriff und wird gerne verwendet, um Papiere etwas auszuschmücken. Das vorliegende Papier würde auch sehr gut ohne ihn auskommen. Das Fahrrad-Experiment habe ich auch schon so ähnlich mit anderen Chips oder nur GPU (Graphics Processing Units, Grafikprozessoren; Anm. der Red.) gesehen, die Neuerung ist die Implementierung, die alles effizienter macht und damit die Praxistauglichkeit des Chips aufzeigt – und die Effizienzsteigerung ist wirklich beachtlich, KI-Forschung wird tatsächlich beschleunigt werden! Es hilft jedoch nicht, die theoretischen Probleme der AGI (siehe oben) zu lösen. Ein kritischer Nachtrag ist noch, dass die Vergleichs-GPU vielleicht nicht die effizienteste und schnellste ist. Ich habe bereits Modell-GPU gesehen, die auch selbst behaupten, 1000-fach schneller und effizienter zu sein als existierende GPU.“

Auf die Frage, wie die Prämisse der Autoren zu bewerten ist, die „Zusammenarbeit“ des neurowissenschaftlichen Ansatzes und des computerwissenschaftlichen Ansatzes sei eine wichtige Voraussetzung für AGI:
„Kurz gesagt: einen sehr kleinen. AGI muss vor allem methodisch verbessert werden: Wie kann man mit wenig (bis keinen) Trainingsdaten gut funktionierende AI bauen, die vertrauenswürdig ist. Ich vermeide es, ‚neurowissenschaftliche Ansätze‘ von ‚computerwissenschaftlichen Ansätzen‘ zu trennen, da es da keine klare, allgemeingültige Grenze gibt. Jedoch ist es schon hilfreich, in Sachen Hardware wirklich viele Architekturen zu ermöglichen und nicht nur CNN (Convolutional Neural Networks, eine Deep Learning Architektur; Anm. der Red.), wie es anfangs die GPU taten.“

Prof. Kristian Kersting

Leiter des Fachgebietes Maschinelles Lernen, Fachbereich Informatik und Centre for Cognitive Science, Technische Universität Darmstadt

„Mit Artificial General Intelligence (AGI) bezeichnen einige den Traum, ‚denkende Maschinen‘ zu bauen. Maschinen, die menschenähnliche Intelligenz und Flexibilität zeigen. Fachlich ist der Begriff der ‚Artificial General Intelligence‘ (AGI) nicht neues und sogar etwas irreführend. AGI war schon immer Teil der Forschung zur Künstlichen Intelligenz (KI). Im Zuge des Dartmouth Workshops führte John McCarthy 1956 den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ ein. KI ist die (Ingenieurs-) Wissenschaft intelligenter Maschinen, insbesondere intelligenter Computerprogramme. Das kann man sich als Kochrezepte fürs Problemlösen, Denken und Lernen vorstellen. Es ist sehr ähnlich zur Aufgabe, Computer zum Verständnis und Nachbilden der menschlichen Intelligenz zu verwenden. Aber die KI muss sich nicht auf Methoden beschränken, die biologisch beobachtbar sind. Autonom fahrende Fahrzeuge, die nur den Menschen nachahmen, würden wahrscheinlich keinen einzigen Stau und Verkehrstoten vermeiden. Um ehrlich zu sein: Die Studie präsentiert auch keine allgemeine KI. Sie präsentiert einen Computerchip, der die Berechnungen für verschiedene Arten von tiefen (künstlichen) neuronalen Netzwerke unterstützt. Künstliche neuronale Netze (KNN) haben ein biologisches Vorbild wie zum Beispiel das menschliche Gehirn. Bei den KNN, die zu den aktuellen Durchbrüchen in der KI geführt haben, geht es allerdings mehr um eine Abstraktion der Informationsverarbeitung im Gehirn. Es geht weniger um das Nachbilden von biologischen neuronalen Netzen und Neuronen. Das ist eher Gegenstand der computationalen Neurowissenschaften. Ein selbstfahrendes Fahrrad kann aber nicht als eine allgemeine KI verstanden werden. Das zu erreichen ist viel schwieriger. Wenn man die Studie liest, wird man feststellen, dass experimentelle Demonstration überraschend begrenzt ist. Es umfasst nur die Aufgaben Fahrrad zu fahren. Nicht Politik. Nicht Einkaufen. Nicht Schreiben. Der Traum einer allgemeinen KI sollte größer sein und geht weit über die derzeitigen Fähigkeiten der KI-Forschung hinaus.“

„Die Studie zeigt, dass sich mathematische Modelle biologischer neuronaler Netze und ihre Abstraktionen in der KI einander in Hardware ergänzen können. Das wird mit dem Fahrrad illustriert. Mehr aber auch nicht. Eine allgemeine Intelligenz wird nicht präsentiert. Die könnte nämlich auch Schach spielen oder über Politik reden und nicht nur eine Inselbegabung wie das Fahrradfahren aufweisen. Der Bezug auf AGI im Titel schießt also etwas über das Ziel hinaus. Der hybride Chip an sich ist aber sehr spannend und könnte helfen, den vermeintlichen Graben zwischen beiden Gebieten – KI und Neurowissenschaften – zu überwinden. Das wäre zu begrüßen. Es muss aber konstatiert werden: Eine allgemeine künstliche Intelligenz gibt es noch nicht und wird wahrscheinlich auch noch lange auf sich warten lassen.“

Auf die Frage, wie die Prämisse der Autoren zu bewerten ist, die „Zusammenarbeit“ des neurowissenschaftlichen Ansatzes und des computerwissenschaftlichen Ansatzes sei eine wichtige Voraussetzung für AGI:
„Dazu müssen wir noch einmal zu den Anfängen der KI zurückgehen. Für viele Forscher in diesem Feld ist der Dartmouth Workshop von 1956 die Geburtsstunde der KI. Hier versammelten sich über einen Zeitraum von acht Wochen in verschiedenen Konstellationen unter anderem John McCarthy, Claude Shannon, Warren McCulloch, Marvin Minsky, John Nash, Nathaniel Rochestor, Herbert Simon und Allen Newell. Diese Liste zeigt dabei die von Anfang an erkannte Notwendigkeit, Experten in der Quantifizierung und Formalisierung menschlicher Denkvorgänge, was heute als Kognitionswissenschaft gilt, als auch Neurowissenschaften einzubinden. Als thematische Liste wurde schon bei diesem Workshop Computer, Verarbeitung natürlicher Sprache, neuronale Netzwerke, Theorie der Computation, Abstraktion und Kreativität genannt, welche noch heute relevant sind. Somit bezog sich der Begriff Künstliche Intelligenz von Anfang an unmittelbar auch auf menschliche Intelligenz und auch auf künstliche und biologische neuronale Netzwerke. Allerdings haben sich dann mit der Zeit die Gebiete auseinandergelebt. Mit dem Tianjic Chip können sich nun Netzwerke aus beiden Traditionen einfach auch hardware-beschleunigt ergänzen. Das ändert aber nichts an der Herausforderung, eine allgemeine KI zu entwickeln. Menschen haben beispielsweise Weltwissen – ein intuitives Gespür für Zusammenhänge, die uns so selbstverständlich erscheinen. Dieses Weltwissen erlaubt es dem Menschen zum Beispiel, die Bedeutung eines neuen Wortes aus nur wenigen Beispielen zu erschließen, robust unter großer Kontextunsicherheit und generell ‚on the fly‘ zu lernen und zu agieren. Aktuelle Arbeiten aus den computationalen Kognitionswissenschaften legen es nahe, dass das die Mainstream-Methoden des Maschinellen Lernens – wie zum Beispiel tiefe, neuronale Netzwerke – nicht können und abstrakte Wissensrepräsentationen notwendig sind. Hier liefert die Studie keinen Beitrag und bezeichnet sich selbst nur als ein Schritt in die richtige Richtung. Das stimmt, aber es müssen noch viele, viele weitere Schritte folgen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Florian Gallwitz: „Keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Shi L et al. (2019): Towards artificial general intelligence with hybrid Tianjic chip architecture. Nature; DOI: 10.1038/s41586-019-1424-8. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Ramamoorthy A et al. (2018): Beyond Mad? The Race for Artificial General Intelligence. ITU Journal: ICT Discoveries, Vol. 1(1), March 2018, pp. 77–84.