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09.03.2022

Stromverbindung zu Tschernobyl unterbrochen

Die Stromzufuhr zum ehemaligen Kernkraftwerk in Tschernobyl wurde laut Angaben des State Special Communications Service of Ukraine unterbrochen [I]. Demnach wurde die 750-Kilovolt-Hochspannungsleitung zwischen der ukrainischen Hauptstadt Kiew und Tschernobyl beschädigt und ist momentan außer Betrieb.

Die nachstehenden Statements geben einen Überblick über den tatsächlichen Bestand des Kernmaterials und der Brennelemente vor Ort und liefern eine erste Einschätzung, inwiefern die fehlende Stromversorgung die Lagerung gefährden könnte.

Übersicht

     

  • Wolfgang Raskob, Gruppenleiter Unfallfolgen, Institut für Kern- und Energietechnik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

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  • Prof. Dr. Georg Steinhauser, Professor für Umweltradioaktivität, Institut für Radioökologie und Strahlenschutz, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

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  • Sebastian Stransky, Abteilungsleiter Internationale Projekte, Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS
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Statements

Wolfgang Raskob

Gruppenleiter Unfallfolgen, Institut für Kern- und Energietechnik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

„Die Energieversorgung aller Anlagen in Tschernobyl ist durch russische Streitkräfte gekappt worden (Mitteilung der IAEA (die Internationale Atomenergie-Organisation; Anm. d. Red.) und der ukrainischen Aufsichtsbehörde). Auf dem Gebiet befinden sind auch Brennelementelager – ISF-1 und ISF-2. ISF-1 ist ein Lager für Brennelemente der abgeschalteten RBMK-Reaktoren (graphitmoderierter wassergekühlter Siedewasser-Druckröhrenreaktor sowjetischer Bauart; Anm. d. Red.), die nicht durch den Reaktorunfall im April 1986 zerstört wurden. Im ISF-1, einem sogenannten Nasslager, sind etwa 20.000 Brennelemente eingelagert, die gekühlt werden müssen. Dazu werden Pumpen betrieben, die das Wasser umwälzen und kühlen. Für den Notbetrieb stehen Dieselgeneratoren bereit, die für etwa 48 Stunden Dieselvorräte haben. Was danach passiert, muss geklärt werden. Auch abgebrannte Brennelemente erzeugen Hitze über die sogenannte Nachzerfallswärme. Je nach Alter der Elemente ist die erzeugte Wärme so hoch, dass Wasser verdampfen kann. Dass die Brennelemente schmelzen, ist weniger wahrscheinlich, muss aber von Experten geklärt werden. Das zweite Lager, ISF-2, ist ein Trockenlager und die dort gelagerten Brennelemente werden durch Naturkonvektion gekühlt. Es sollte also keine Gefahr eine Freisetzung bestehen.“

„Der Sarkophag beinhaltet etwa 2500 Tonnen Kernmaterial. Die Aktivität liegt in der Größenordnung von 2,0 x 1019, davon sollte ein großer Teil Americium und Cäsium sein. Auch dort ist die Kühlung ausgefallen. Ob eine Rekritikalität (das Zurückkehren in einen kritischen Zustand – der normale Betriebszustand eines Kernreaktors, in dem eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion abläuft; Anm. d. Red.) möglich ist, muss geklärt werden. Persönlich halte ich es für unwahrscheinlich.“

Prof. Dr. Georg Steinhauser

Professor für Umweltradioaktivität, Institut für Radioökologie und Strahlenschutz, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

„Mit dem Stromausfall in Tschernobyl werden aktuell zwei Aspekte wichtig. Zum einen: Die technische Infrastruktur steht! Die Schutzhülle über dem alten Sarkophag des Unglücksreaktors funktioniert als physikalische Barriere, aber nicht in vollem Umfang. Einen Teil dieser Schutzhülle bilden auch Luftfilteranlagen, die ohne Strom nicht arbeiten. Allerdings entstehen daraus keine relevanten Gefahren durch den 1986 havarierten Reaktorblock. Zum anderen müssen wir unseren Blick auf das Brennelementlager auf dem Kraftwerksgelände richten. Dort lagern nur die alten Brennelemente des AKW Tschernobyl, dessen letzter Block im Jahr 2000 abgeschaltet wurde. Die Elemente klingen dort also seit mindestens 22 Jahren ab und werden deswegen nun keine problematische Hitzeentwicklung mehr zeigen. Ich denke deshalb, diese Lager könnten eine gewisse Zeit lang auch ohne Strom standhalten.“

„Jetzt stellt es sich als Glücksfall dar, dass nicht – anders als geplant – das Reaktorgelände in Tschernobyl als zentrales Zwischenlager für den gesamten radioaktiven Abfall auch aus den anderen ukrainischen Atomkraftwerken genutzt wurde. Eigentlich sollte im März 2022 begonnen werden, das ukrainische Inventar an alten Brennelementen dorthin zu verlegen. Also genau jetzt. Das ist durch die Invasion natürlich nicht zustande gekommen.“

„Ein weiterer Aspekt ist die menschliche Komponente. Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Belastung für die Menschen vor Ort durch den Stromausfall zusätzlich noch ist. Zusätzlich zu der ‚Geiselhaft‘, in der die Belegschaft seit der Eroberung durch die russischen Streitkräfte ist. Zusätzlich zu den zwölf Tagen Dauereinsatz seitdem. Jetzt fällt der Strom auch in den einfachen Unterkünften aus, es gibt somit keine Heizung und kein Warmwasser mehr. Die Belastung für die Belegschaft ist wirklich nur schwer auszumalen.“

Sebastian Stransky

Abteilungsleiter Internationale Projekte, Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS

„Wir schätzen die Lage nach unseren bisherigen Informationen nicht als besorgniserregend ein. Den aus meiner Sicht einzigen potenziellen Risikofaktor stellen die bestrahlten Brennelemente dar, die im Nasslager (quasi ein großer Swimming-Pool) am Standort Tschernobyl zwischengelagert werden. Bei einem Stromausfall würde die aktive Kühlung des Wassers im Becken nicht mehr funktionieren. Dies allein ist aber noch nicht besorgniserregend, da die Brennelemente bereits seit mehr als zwanzig Jahren in dem Becken lagern und viel von ihrer Wärmeentwicklung verloren haben. Das Wasser im Becken würde sich erwärmen, jedoch nicht so weit, dass es kochen kann. Es würde dann im Verlauf einiger Wochen eine Verdunstung des Wassers eintreten, solange man keine Gegenmaßnahmen einleitete. Doch selbst ein solcher Wasserverlust wäre weniger eine Frage der nuklearen Sicherheit und würde auch nicht automatisch zur Zerstörung der Brennelemente und damit zu größerer Freisetzung von Radioaktivität führen. Vielmehr würde durch Verdunstung des Wassers die Strahlungsabschirmung der Brennelemente geschwächt werden, sodass das Betriebspersonal nicht mehr ohne Weiteres und ohne persönliche Gefährdung in das Lager und somit in die Nähe des Lagerbeckens gelangen könnte. Für die Umgebung des Kraftwerks oder für weiter entfernte Regionen ergäben sich daraus keine sicherheitstechnisch bedenklichen Situationen. Allerdings verfügt der Standort über Notstromdiesel mit Kraftstoffvorräten, die eine Stromversorgung für einige Tage gewährleisten. Sollte danach weder die Stromversorgung über das Landesnetz wiederhergestellt noch zusätzlicher Kraftstoff organisiert worden sein, würde es immer noch mehrere Wochen dauern, bis ein signifikanter Wasserverlust auftreten würde.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] SSSCIP Ukraine auf Twitter (09.03.2022).

Weitere Recherchequellen

Science Media Centre (2022): expert reaction to reports that the (a) IAEA has lost contact with Chernobyl nuclear data systems and (b) Chernobyl cut off from power supply. roundups for journalists. Stand: 09.03.2022