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19.05.2016

EU vertagt Glyphosat-Entscheidung

Der Ständige Ausschuss für Pflanzen, Tiere, Lebens- und Futtermittel (SCoPAFF) der Europäischen Kommission hat am 19. Mai 2016, anders als vorgesehen, nicht über die Wiederzulassung von Glyphosat abgestimmt, weil absehbar war, dass kein einheitliches Ergebnis hätte erzielt werden können.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Matthias Kästner, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig
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  • Prof. Dr. Christoph Schäfers, Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME, Schmallenberg​
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  • Dr. Horst-Henning Steinmann, Zentrum für Biodiversität und Nachhaltige Landnutzung, Universität Göttingen, Göttingen
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  • Assoc. Prof. Dr. Johann Zaller, Institut für Zoologie, Universität für Bodenkultur BOKU, Wien​
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Statements

Prof. Dr. Matthias Kästner

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig

"Die Frage ist jetzt natürlich, wie das abschließende Votum der Kommission wirklich aussieht. Ich würde da eher auf eine weitere befristete Verlängerung der Zulassung tippen."

"Ein Verbot der Zulassung hätte natürlich sofort Konsequenzen für alle Beteiligten. Leider würden deswegen ja nicht generell weniger Pestizide oder im speziellen Fall Herbizide verwendet werden, sondern sicher auf andere Wirkstoffe ausgewichen werden. Ob deren Toxizität bzw. Kanzerogenität (krebsauslösende Wirkung, Anm. d. Red.) geringer ist, bleibt noch abzuwarten. Ich würde mal befürchten, dass das nicht oder kaum der Fall sein wird. Für eine wirkliche Veränderung der eingesetzten Pestizidmengen bräuchten wir daher ein Maßnahmenbündel zur Senkung des generellen Pestizideinsatzes. Dies wären z. B. Steuern oder Abgaben auf Pestizide oder lokale Kataster der Anwendung mit Beschränkungen etc."

"Letztlich haben wir uns ja mit unseren 'modernen' landwirtschaftlichen Praktiken, wie z. B. dem Verzicht auf treibstoffintensives Pflügen der Äcker oder der Herbizidnutzung zur Verringerung der Wasseraufnahme vor der Ernte erst den erhöhten Bedarf und die neuen Anwendungen für Herbizide geschaffen. Dies lässt sich durch ein Verbot natürlich nicht zurückdrehen, sodass die Nachfrage für andere Herbizide in diesem Falle steigen würde."

"Beim Glyphosat ist zudem die Frage, ob es krebserregend ist oder nicht, sicher nicht die einzige toxikologisch relevante Frage. Glyphosat ist ja ursprünglich als Antibiotikum patentiert worden und hat daher eine abtötende bzw. hemmende Wirkung auf eine ganze Reihe von Bakterien. Diese Wirkung führt bei Rückständen in Futtermitteln oder auch bei der Silageherstellung wahrscheinlich zu Veränderungen der Zusammensetzung der Mikroorganismen im Verdauungstrakt der Tiere oder in der Silage. Es gibt Studien, die bei hoher Glyphosatbelastung Zusammenhänge zu Missbildungen bei Föten wie auch Botox-Vergiftungen (Toxine durch das Bakterium Clostridium botulinum) herstellen, welche aber sicherlich noch näher geprüft werden müssen."

"Leider sind Lebensmittel ja auch `Futtermittel´ für den Menschen und folglich ist hier die Frage der Rückstandsmengen und deren Wirkungen von wesentlicher Bedeutung. Meines Wissens nach sind die zugelassenen Rückstandsmengen in Lebensmitteln für den menschlichen Verzehr in den vergangenen Jahren sogar erhöht worden. Die Verengung auf die Frage der Kanzerogenität greift daher aus meiner Sicht viel zu kurz. Allerdings muss auch einschränkend gesagt werden, dass die Fragen zur Toxizität natürlich auch für fast alle anderen Pestizidwirkstoffe gilt."

"Nach meiner Einschätzung müsste daher nicht nur die Frage der Kanzerogenität im Sinne der klassischen Beurteilung der Giftigkeit untersucht werden. Beim Glyphosat müsste insbesondere auch die antibiotische Wirkung der Rückstände in Futtermitteln auf die Magen-Darm-Flora der Nutztiere, beim Prozess der Silageherstellung wie auch für die menschliche Ernährung näher untersucht werden."

Prof. Dr. Christoph Schäfers

Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME, Schmallenberg​

"Die wesentliche Frage ist, was letztlich bewertet werden soll. Zum Aspekt der Verringerung der Biodiversität: Landwirtschaft zielt darauf ab, im Bereich der Anbaufläche Unkraut zu vernichten. Der Einsatz von Glyphosat ermöglicht dies (zurzeit noch) zuverlässig, preiswert und – von den zuständigen Behörden geprüft – mit vertretbaren Nebenwirkungen, wenn die Anwendung im zugelassenen Rahmen erfolgt. Darüber hinaus erlaubt das glyphosatbegleitete Direkteinsaatverfahren eine pfluglose Bodenbearbeitung mit deutlichen Vorteilen beim Erosionsschutz. Aus Sicht der ökotoxikologischen Risikobewertung ist Glyphosat weniger problematisch als fast alle anderen chemischen Alternativen."

"Wenn das Ziel ist, eine weniger effektive Unkrautbekämpfung durchzusetzen, um die Biodiversität der Wildkräuter auf dem Acker und daneben zu erhöhen (und die der ganzen damit verbundenen Lebensgemeinschaft), müsste man den chemischen Pflanzenschutz insgesamt einschränken und auch nichtchemische Verfahren kritisch betrachten. Das hat zur Folge, dass die konventionelle Landwirtschaft nicht mehr zu den Preisen produzieren kann, die wir als Verbraucher kennen und über die Kaufentscheidung einfordern. Damit wird das Feld wissenschaftlicher Fragestellungen bezüglich Glyphosat verlassen."

"Zum Aspekt der Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit: Anders als bei ökotoxikologischen Fragen (Schutzziel: Population, Biodiversität) zielen Bewertungen hier auf die Bewahrung der individuellen gesundheitlichen Integrität. Normalerweise wird ein Gesundheitsrisiko abgeschätzt, indem in Tierversuchen ermittelte Schwellenwerte für die chronische Toxizität mit der Dosis verglichen werden, die über modellhafte Betrachtungen in Menschen erreicht werden kann. Sowohl für die Extrapolation von Tierversuchsdaten auf den Menschen als auch bei der Verwendung der Belastungsmodelle werden Sicherheitsfaktoren verwendet. Pflanzenschutzmittel sind die einzigen Stoffe, die in großen Mengen bewusst in die Umwelt ausgebracht werden, um Organismen zu schädigen. Deshalb sind sie die, bezüglich ihrer Gesundheitsrisiken, bestuntersuchten Stoffe nach den Arzneimitteln. Anders als andere Zulassungsverfahren ist die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zeitlich befristet und ermöglicht die Einforderung weiterer Studien bei Änderungen der Risikoeinschätzung."

"Für Stoffe, die Krebs erregen, Mutationen auslösen oder die Reproduktion schädigen, gelten in Europa spezielle Regeln: Da kein sicherer Grenzwert festgelegt werden kann, wird keine Risikoabschätzung vorgenommen, sondern nur auf Basis der Gefährdung reguliert. Das heißt: Ist erwiesen, dass die zu bewertende Substanz beispielsweise Krebs erregt oder direkt das menschliche Hormonsystem beeinträchtigt, ist sie nicht mehr zulassungsfähig. Bei der Bewertung sind wir erkenntnistheoretisch begrenzt: Wir können nur eine Wirkung wissenschaftlich nachweisen. Unbedenklichkeit ist nur zu prüfen, indem der Wirkungsnachweis nicht gelingt; deshalb ist eine absolute Sicherheit der Aussage grundsätzlich nicht zu erreichen. Die von der Industrie vorgelegten Studien (z.B. Zwei-Generationen-Studien mit der Ratte mit Kosten im Mio €-Bereich) werden anhand wissenschaftlicher und regulatorischer Kriterien von staatlichen Behörden geprüft und bewertet. Auch alle anderen verfügbaren Studien müssen in die Bewertung einbezogen werden, soweit sie die Anforderungen an die Qualität der Daten erfüllen. Die Diskrepanzen zwischen den Einschätzungen innerhalb der WHO und zwischen BfR/EFSA und WHO basieren offensichtlich auf unterschiedlichen Bewertungen der Relevanz 'weiterer' Studien im Sinne des Vorsorgeprinzips."

"Glyphosat ist ein gutes Beispiel für die massive Übernutzung eines einzigartigen Wirkstoffs. Zur Belastung menschlicher Nahrung trägt die Behandlung vor der Ernte (Sikkation) am meisten bei, die in Deutschland inzwischen nicht mehr zugelassen ist. Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollte EU-weit auf diese Anwendung verzichtet werden."

Dr. Horst-Henning Steinmann

Zentrum für Biodiversität und Nachhaltige Landnutzung, Universität Göttingen

"Die Nicht-Entscheidung über die Glyphosat-Wiederzulassung ist ein Signal dafür, dass die in der Öffentlichkeit spürbare Verunsicherung auch bei der Politik angekommen ist. Aus fachlicher Sicht lagen ja eine Vielzahl von Informationen vor, die auch mittlerweile über Jahre hinweg diskutiert wurden. Es wäre durchaus möglich gewesen, zum jetzigen Zeitpunkt eine Zulassungsentscheidung zu treffen. Vielfach wird nämlich übersehen, dass Zulassungsentscheidungen von Pflanzenschutzmitteln nicht unumkehrbar sind. Es wären also keine schicksalhaften Fakten geschaffen worden. Vermutlich ist es jetzt aber erforderlich, einen Neustart zu versuchen. Denn noch einmal: Glyphosat ist ein durchaus nützliches Herbizid. Dieser Neustart würde aber bedeuten, dass Entscheidungsträger sich auf wissensbasierte Kriterien berufen müssten. Andernfalls sollten sie ihre Kriterien klar benennen. Von der Agrarseite wird man sicher erwarten müssen, dass hier Angebote kommen, wie künftig mit dem Glyphosat sparsam und gezielt umgegangen werden soll."

"Die Wissenschaft kann nun nicht mehr tun, als ihre Arbeit weiterzumachen. Toxikologen werden weiterhin an den Nebenwirkungen von Glyphosat und anderen Stoffen forschen. Das ist auch richtig so. Agrarforscher müssen sich weiter um die Wirkungen und Nebenwirkungen von Glyphosat in Ackerbausystemen kümmern. Da ist noch erstaunlich Vieles unklar. Beispielsweise kann niemand belastbare Aussagen über die Wirkung von Glyphosat auf die Ertragsleistung der Ackerkulturen machen. Da arbeiten wir bisher nur mit Schätzungen. Daneben sollte aber eine ernsthafte und ehrliche Diskussion geführt werden, welche Bewertungsgrundlagen für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und anderen Stoffen künftig gelten sollen. Die Glyphosat-Debatte hat sehr viel Emotionales mit ins Spiel gebracht, das in diesen Prozessen bisher nicht üblich war. Hier verlassen wir das Gebiet, auf dem die Naturwissenschaften Antworten geben können."

Assoc. Prof. Dr. Johann Zaller

Institut für Zoologie, Universität für Bodenkultur BOKU, Wien​

"Diese Nicht-Einigung kann vorsichtig als ein Sieg der wissenschaftlichen Fakten gegenüber den Industrie-Interessen interpretiert werden. Offenbar hat sich jetzt auch in der EU-Kommission herumgesprochen, dass sich Europa dem Vorsorgeprinzip verpflichtet hat und nicht die ungeprüfte Weiterverwendung dieses Wirkstoffs riskiert werden soll. In der Folge sollten jetzt endlich auch alle Industriestudien auf den Tisch gelegt werden, damit eine transparente Einschätzung durch unabhängige Experten erfolgen kann."

"Die Wissenschaft ist jetzt auch gefordert, der Öffentlichkeit klarzumachen, wie die Zulassungsverfahren ablaufen und warum es zu unterschiedlichen Einschätzungen der Nebenwirkungen dieses Wirkstoffs kommen konnte. Das kann nur funktionieren, wenn die Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden: Das heißt, alle zur Beurteilung verwendeten Studien müssen öffentlich zugänglich gemacht werden. Die bis jetzt involvierten Gremien weiterhin damit zu betrauen, halte ich für problematisch. Vor dem Hintergrund der starken deutschen Agrochemieindustrie ist auch die Rolle Deutschlands als Berichterstatter dieser Befunde kritisch zu hinterfragen."

"In der Öffentlichkeit wird Glyphosat als alternativlos für die sogenannte moderne Landwirtschaft dargestellt. Das ist sicherlich überzeichnet. Immerhin gibt es mit dem ökologischen Landbau (Biolandbau) einen sehr erfolgreichen Zweig der Landwirtschaft, der durch geschickte Fruchtfolgegestaltung und mechanischer Unkrautbekämpfung völlig ohne Totalherbizide auskommt."

"Die Zulassung und der gesamte mediale Fokus bezieht sich auf den Wirkstoff Glyphosat. Ich werde nicht müde zu betonen, dass dieser Wirkstoff in der Praxis als Formulierung mit unzähligen Beistoffen eingesetzt wird. Diese Beistoffe werden von den Herstellern unter dem Vorwand des Betriebsgeheimnisses meistens nicht deklariert. Von den bekanntgegebenen Beistoffen weiß man allerdings, dass sie zum Teil sogar toxischer sind als der Wirkstoff Glyphosat selbst."

"Ein – zugegebenermaßen nicht unbescheidener – Wunsch wäre, dass diese Pleiten rund um die Neuzulassung von Glyphosat eine allgemeine Diskussion zur Abhängigkeit unserer Landwirtschaft von der Agrarchemie entfacht. Unwirksamkeiten der Totalherbizide gegenüber immer mehr Unkrautarten (super weeds), Beeinträchtigungen des Bodenlebens, von Amphibien und allgemein der Biodiversität auf den Feldern sowie Kontamination von Nahrungsmitteln bis hin zu einer wahrscheinlichen Krebsgefahr: Das sind besorgniserregende Befunde, nach denen nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann."

Mögliche Interessenkonflikte

Alle: Keine angegeben.