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19.04.2017

Plasmaproteine aus menschlicher Nabelschnur verjüngen Gedächtnis bei Mäusen

Lässt sich das Gedächtnis von alternden Mäusen revitalisieren, indem die Tiere Blutplasma intravenös gespritzt bekommen, das aus der Nabelschnur von Menschen gewonnen wird? Das legen zumindest Experimente mit menschlichem Nabelschnurblut in Nagern nahe, die in der Fachzeitschrift „Nature“ publiziert wurden (siehe *Primärquelle) – anderthalb Jahre, nachdem die erste Fassung des Manuskripts eingereicht worden war. Eine Forschergruppe um den Neurologen Tony Wyss-Coray von der kalifornischen Universität Stanford will das Plasmaprotein TIMP-2 als einen möglichen „Verjüngungsfaktor“ für den Hippocampus alternder Mäuse isoliert haben. Dieselbe Arbeitsgruppe hatte bereits andere Proteine im Plasma junger Mäuse identifiziert, die bestimmte Leistungen alternder Mäuse verbessern sollen, etwa GDF11 (siehe [1] und „Weitere Recherchequellen“). Obwohl die Mechanismen der Revitalisierung noch im Dunkeln liegen, laufen bereits erste klinische Studien, bei denen Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen „junges“ Blutplasma injiziert bekommen (siehe „Weitere Recherchequellen“).

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Gerd Kempermann, Leiter der Arbeitsgruppe Genomische Grundlagen der Regeneration, CRTD – DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden, Technische Universität Dresden, und Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Dresden, Dresden
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  • Prof. Dr. Dr. Hannelore Ehrenreich, Leiterin der Abteilung Klinische Neurowissenschaften, Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen
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Statements

Prof. Dr. Gerd Kempermann

Leiter der Arbeitsgruppe Genomische Grundlagen der Regeneration, CRTD – DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden, Technische Universität Dresden, und Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Dresden, Dresden

„Das Blutplasma von jungen Mäusen und Menschen scheint Eiweiße zu enthalten, mit denen sich bestimmte Aspekte von Jugend auf alte Mäuse übertragen lassen. Hier wurde in Nabelschnurblut ein bisher in diesem Zusammenhang nicht bekanntes Protein entdeckt, das im Hippocampus – einer Hirnregion, die als ‚Tor zum Gedächtnis’ gilt – recht spezifisch Lernen fördert und alte Mäuse wieder wie junge lernen lässt.“

„Die Ergebnisse passen grundsätzlich zu anderen, früheren Befunden. Das Besondere an der neuen Studie ist, dass menschliches Nabelschnurblut als Quelle für die verjüngenden Eiweiße verwendet wurde. Das Protein TIMP-2 selbst ist in solchen Kontexten bisher nicht aufgetaucht; was hier beschrieben wird, legt eine neue Bedeutung von TIMP-2 nahe. Insofern ist der Befund überraschend.“

„Eine wichtige Frage ist, wie TIMP-2 mit anderen Faktoren zusammenspielen könnte, die charakteristisch für junge Individuen sind. Es spricht einiges dafür, dass man hier auf einen weiteren Mosaikstein in einer größeren Geschichte gestoßen ist. Dafür spricht auch, dass die gleiche Arbeitsgruppe (und andere) ja schon andere Proteine, die eine verjüngende Wirkung haben sollen, entdeckt haben [1].“

„Ein großes Fragezeichen ist, was ‚verjüngend’ am Ende genau bedeutet. Im beschriebenen Experiment steht das ja zunächst einmal nur dafür, dass nach der Behandlung alte Mäuse wieder Leistungen zeigen, die für jüngere Nager normal sind – nicht, dass ihr Altern an sich aufgehoben wurde.“

„Mäuse sind keine kleinen Menschen: Es ist immer die Frage, was man als Evidenz akzeptieren will, um Schlussfolgerungen mit Relevanz für den Menschen zu ziehen. Rein wissenschaftlich gesehen, kann man da großzügiger sein, als wenn es darum geht, klinische Studien anzuregen. Die Verhaltenstests sind für die Untersuchung vor allem älterer Mäuse üblich. Die elektrophysiologischen Untersuchungen sind ein allgemeiner Standard.“

„Wie die in die Blutbahn injizierten Proteine wie TIMP-2 ins Gehirn gelangen können, ist noch nicht ganz klar. Irgendeine Form von Aktivierung, möglicherweise mit Öffnung der Blut-Hirn-Schranke, scheint dafür nötig zu sein. Aber TIMP-2 arbeitet wahrscheinlich nicht allein. Und auch die Frage, auf welche Weise es Lernen verbessert, bleibt noch zu erforschen.“

Auf die Frage, ob dieser Ansatz der Altersforschung wissenschaftlich betrachtet sinnvoll erscheint: „Als Beitrag im großen Ganzen: ja. Aber man darf dadurch nicht zu der Annahme verleitet werden, dass Altern und insbesondere erfolgreiches Altern nur von ‚jungem Blut’ abhinge. Die Sache ist weitaus komplexer. Die einzelnen Bausteine in dem Konzert sind wichtig und relevant, aber voreilig auf sie zu setzen, ist gefährlich und weckt möglicherweise falsche Vorstellungen von Alter und Jugend. Die Arbeiten von Wyss-Coray sind aber bedeutend, weil sie zeigen, dass es überhaupt Faktoren im Blut gibt, die in der Lage sind, bestimmte Aspekte von ‚Jugend’ zu vermitteln.“

Prof. Dr. Dr. Hannelore Ehrenreich

Leiterin der Abteilung Klinische Neurowissenschaften, Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen

„Zelltherapien und Blutübertragungen als erhoffter ‚Jungbrunnen‘ sind uralt und öffnen Geschäftemachern seit jeher Tür und Tor. Sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen jedoch sind selten, und systematische klinische Studien fehlen weitgehend. Die Forschergruppe um Tony Wyss-Coray, Universität Stanford, hat TIMP-2 als einen der möglichen ‚Verjüngungsfaktoren’ aus menschlichem Nabelschnurblut identifiziert und systematisch und umfassend nach den Regeln moderner biomedizinischer Forschungsmethoden und Techniken untersucht.“

„Bei Mäusen erweist sich nach diesen Untersuchungen TIMP-2 als ein potenter Faktor, der auch nach intravenöser Injektion ins Gehirn gelangt (wie das genau geschieht, ist noch unklar), und hippocampale Funktionen wie Lernen und Gedächtnis im Alter verbessern kann.“

„Diese Ergebnisse sind in der Tat spektakulär und sollten unbedingt in der Altersforschung weiterverfolgt werden. Für verallgemeinernde Schlussfolgerungen oder gar die Verbreitung von Hoffnungen für alte und kranke Menschen ist es jedoch noch viel zu früh.“

„Bevor zu hohe Erwartungen geweckt werden, müssen erstens die Ergebnisse durch andere, unabhängige Arbeitsgruppen reproduziert werden, zweitens die Experimente auch auf weitere Spezies, beispielsweise nichtmenschliche Primaten, ausgedehnt werden, und drittens vor allem erste klinische Studien an Menschen durchgeführt werden.“

Mögliche Interessenkonflikte

Kempermann: „Ein Interessenkonflikt besteht nicht.“

Ehrenreich: „Keine Interessenkonflikte.“

Primärquelle

Castellano JM (2017): Human umbilical cord plasma proteins revitalize hippocampal function in aged mice. Nature. DOI: 10.1038/nature22067.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Castellano JM et al. (2015): Blood-Borne Revitalization of the Aged Brain. JAMA Neurol;72(10):1191-4. DOI: 10.1001/jamaneurol.2015.1616.

Weitere Recherchequellen

Zhou Y et al (2017): GDF11 Treatment Attenuates the Recovery of Skeletal Muscle Function After Injury in Older Rats. AAPS J.;19(2):431-437. DOI: 10.1208/s12248-016-0024-x.

Freitas-Rodríguez S et al. (2016): GDF11 administration does not extend lifespan in a mouse model of premature aging. Oncotarget;7(35):55951-55956. DOI: 10.18632/oncotarget.11096.

Übersicht über bereits laufende klinische Studien:

The Plasma for Alzheimer Symptom Amelioration Study. ClinicalTrials.gov Identifier:NCT02256306.

The Stanford Parkinson's Disease Plasma Study. ClinicalTrials.gov Identifier:NCT02968433.

Efficacy and Safety of Young Health Plasma on Acute Stroke. ClinicalTrials.gov Identifier:NCT02913183.

Clinical Trial to Evaluate the Potential Efficacy and Safety of Human Umbilical Cord Blood and Plasma. ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02418013.