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14.07.2016

Biodiversität an kritischer Grenze?

Ist die globale Biodiversität durch die wachsende Landnutzung des Menschen bereits unter eine kritische Grenze gesunken? Dieser Frage geht eine Studie nach, die am 14.07.2016 in der Fachzeitschrift „Sciene" erschienen ist. Die Autoren werten 2,3 Millionen Aufzeichnungen von über 39.000 Arten an 18.600 verschiedenen Standorten aus und ziehen aus ihrem Ergebnis einen Schluss, den sie für alarmierend halten: die Artenvielfalt sowie die Größe der Populationen unterschreiten auf 58 Prozent der Erdoberfläche eine kritische Grenze. Sollten sich diese Daten bestätigen, könnten für den Menschen entscheidende Ökosystemleistungen (z.B. die Bestäubung von Nutzpflanzen, Müllabbau, Regulation des Kohlenstoffkreislaufs und mit ihm die Produktion von Biomasse), die von der funktionellen Biodiversität einer Region abhängen, verloren gehen oder zumindest stark eingeschränkt werden.

 

Übersicht

  • Prof. Dr. Dieter Gerten, Leiter Forschungsgruppe „Planetary Opportunities and Planetary Boundaries“, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Potsdam
  • Dr. Carsten Neßhöver, stellvertretender Leiter Department Naturschutzforschung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig
  • Prof. Dr. Martin Entling, Leiter Abteilung Ökosystemanalyse, Institut für Umweltwissenschaften, Universität Koblenz-Landau, Landau

Prof. Dr. Dieter Gerten

Leiter Forschungsgruppe „Planetary Opportunities and Planetary Boundaries“, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Potsdam

„Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Frage, ob und inwieweit die menschlichen Veränderungen der Landflächen der Erde bereits zur Überschreitung einer der neun ‚Planetaren Grenzen’ – die im Sinne einer präventiven Gefahrenabwehr allesamt eingehalten werden sollten – geführt haben. Mittels umfangreicher Ökosystemdaten, die hier erstmals in hoher Auflösung mit globaler Abdeckung aufbereitet wurden, und gemessen an dem in früheren Studien empfohlenen Grenzwert lautet die Antwort ‚ja’ für viele Regionen.“

„Dass die weltweiten menschlichen Eingriffe in die Landökosysteme die Artenvielfalt stark vermindert haben, ist an sich keine neue Erkenntnis. Durch die konsequente Orientierung am Konzept der ‚Planetaren Grenzen’, das sie quantitativ unterfüttert, zeigt die Studie allerdings, dass der Artenverlust aufgrund der verbreiteten Überschreitung der Toleranzgrenzen in der Tat eines der wesentlichsten globalen Umweltprobleme darstellt.“

„Zwar besteht weiterer Forschungsbedarf: Die verwendete Maßzahl ist nur eine von vielen möglichen, aber für globale Darstellungen durchaus geeignet, und ihr gewählter Grenzwert ist nicht zuletzt auch eine Wertefrage; Meeres- und Gewässerökosysteme werden nicht betrachtet; Auswirkungen des Klimawandels sind nicht explizit erfasst; und die Zusammenhänge mit anderen ‚Planetaren Grenzen’ (Stoffkreisläufe, Landnutzung, Wassernutzung) müssen noch viel besser verstanden werden. Dennoch ist die Studie ein klares Signal, dass bisher intakte Flächen geschützt werden müssen und insbesondere in der Landwirtschaft zukünftig nachhaltigere Bewirtschaftungsmaßnahmen umgesetzt werden müssen, um das natürliche Erdsystem – die Basis der Menschheit – nicht weiter zu destabilisieren.“

Dr. Carsten Neßhöver

stellvertretender Leiter Department Naturschutzforschung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ, Leipzig

„Das Fragezeichen im Titel der Studie ist gut gewählt. Die Studie geht von sehr vielen Annahmen aus, nicht zuletzt bei der Setzung der sogenannten ‚Planetaren Grenzen’. Daher ist die Studie ein sehr hilfreicher Beitrag zur entsprechenden Debatte, kann die Frage aber selber eigentlich nicht beantworten.“

„Es ist grundsätzlich erfreulich, dass die Biodiversitätsforschung mehr und mehr in der Lage ist, aggregierte Daten zu nutzen, um zu breiteren Aussagen zu kommen. Dies war lange nicht möglich. Allerdings birgt dies immer die Gefahr, wie auch in diesem Falle, dass sehr unterschiedliche Daten genutzt werden, und Aussagen von verschiedenen Skalen allzu unkritisch auf höhere Ebenen, in diesem Falle die globale Ebene und die Ebene der Biome ‚hochgerechnet’ werden. Auf der großen Ebene erscheinen Ergebnisse daher sinnvoll, ob sie dies aber auch faktisch sind, müsste auf einer anderen Ebene, etwa im zur Berechnung genutzten Raster von 1km² angeschaut werden.“

„Ohne das zugrunde liegende Papier, das diese ‚Grenzen’ festlegt, genau zu kennen: Das Konzept der ‚Planetaren Grenzen’ ist aus meiner Sicht ungeeignet, um solche Fragen wirklich zu beantworten. Die Bedingungen in Ökosystemen und ihrer Reaktion auf Landnutzungsänderungen in Artenzahl und Häufigkeit sind zu vielfältig, um sie so stark zusammenzufassen. Die Aussagen, die sich daraus ergeben, das heißt, wo Arten besonders gefährdet sind und wo noch weniger, sind im Grunde bekannt.“

„Auf der globalen Ebene, die die Studie anspricht, kann man solche Schwellenwerte kaum festlegen. Die genutzten Zahlen von 20 Prozent (bezogen auf Häufigkeit der ursprünglich vorhandenen Arten, Anm. d. Red.) bzw. 10 Prozent (bezogen auf die Artenvielfalt, Anm. d. Red.) sind recht beliebig, wie auch im Papier angesprochen. Und sie sind im Sinne des Vorsorgeprinzips niedrig gewählt ­- ein grundsätzlich guter Ansatz.“

„Es ist ein sehr interessanter Ansatz, die Rolle von vorhandenen Arten und ‚neuen’ Arten in einem solchen Modell erstmalig darzustellen. Aus meiner Sicht hat dies aber auf der globalen Ebene wenig Aussagekraft, da auch innerhalb von funktionellen Gruppen vor allem die lokalen Gegebenheiten eine starke Rolle darin spielen, ob eine ‚neue’ Art die Rolle einer ‚alten’ übernehmen kann - vielfach verändern sich einfach schlicht die Systeme und ihre Funktionen.“

„Die ‚Planetaren Grenzen’ sind als ein Konzept entstanden, das von der globalen Perspektive her ökologische Grenzen für die politische Diskussion zur globalen Umweltpolitik definiert. Hier entfaltet es seine Wirkung, da es eingängig ist und die globalen Umweltprobleme auf wenige Zahlen reduziert. Jede Zahl hat aber ihre spezifischen Probleme in ihrer Festlegung - die Grenzen können nicht klar gezogen werden und sind letztendlich Festlegungen einzelner Experten, die mit einer globalen Brille auf die Zustände schauen.“

Prof. Dr. Martin Entling

Leiter Abteilung Ökosystemanalyse, Institut für Umweltwissenschaften, Universität Koblenz-Landau, Landau

„Die Abnahme von Ökosystemfunktionen aufgrund von Artenverlust ist meist kontinuierlich, es gibt in der Regel keine Schwellenwerte unterhalb derer die Funktionen stark eingeschränkt sind. Darüber hinaus ist oft eine bestimmte einzelne Art in der Lage, eine bestimmte Funktion, zum Beispiel Primärproduktion, stärker zu erfüllen als eine diverse Artengemeinschaft. Dies kann auch eine gebietsfremde Art sein - in der Landwirtschaft werden ja fast überall gebietsfremde Arten (Weizen, Mais und Reis sind jeweils fast überall gebietsfremd) eingesetzt, um maximale Erträge zu erzielen. Diese Schwierigkeiten werden auch in Mace et al. 2014 [1] genannt, der Artikel wird jedoch in der aktuellen Studie als Beleg dafür angeführt, dass Schwellenwerte existieren könnten.“

„Richtig ist, dass die Wiederherstellung von Artenvielfalt regional sehr schwierig und nach dem globalen Aussterben einer Art überhaupt nicht mehr möglich ist. Im Bezug auf die Erhaltung der Biodiversität könnte sich die ‚Planetare Grenze’ also zum Beispiel an der Artbildungsrate orientieren. Man könnte das Ziel haben, dass nur so viele Arten aussterben wie sich in derselben Zeit neu bilden. Diese Schwelle ist jedoch bereits seit Jahrhunderten gravierend überschritten. Die ‚Planetaren Grenzen’ orientieren sich aber an der Funktion der Biodiversität. Ich halte es persönlich für unrealistisch, hier eine Grenze zu definieren, die global anwendbar ist. Dazu sind die Ökosysteme zu unterschiedlich und zu komplex, und die Funktionen hängen ganz unterschiedlich von der Biodiversität ab.“

„Ich halte einen Schwellenwert für unrealistisch (ab dem die funktionelle Biodiversität eines Ökosystems ohne menschliche Intervention nicht mehr zu erhalten ist, Anm. d. Red.). Um den globalen Artenverlust zu reduzieren, muss vor allem der Landverbrauch reduziert werden (das heißt, Schutz der verbliebenen intakten Ökosysteme), Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden sowie die direkte Verfolgung bedrohter Arten müssen reduziert werden.“

„Bestimmte Funktionen können sehr gut von natürlichen Ökosystemen und den ursprünglich darin vorkommenden Arten erfüllt werden, zum Beispiel die Kohlenstoffspeicherung und die Regulation des Klimas. Andere Funktionen, vor allem die Bereitstellung von Nahrung und Rohstoffen, werden von natürlichen Ökosystemen meist nicht in dem Maße erfüllt, in dem sie heute benötigt werden. Darum werden natürliche Ökosysteme in Land- und Forstwirtschaft umgewandelt. Der Verlust der Artenvielfalt ist primär eine Folge dieser Umwandlung, die mit einer Intensivierung bestimmter gewünschter Funktionen einhergeht. Es ist daher nicht richtig, den Rückgang der Biodiversität als eine Gefahr für die Produktivität von Ökosystemen darzustellen. Das Gegenteil ist der Fall - die Erhöhung der Produktivität aufgrund von Landverbrauch und des Einsatzes von Energie und Agrochemikalien zerstört die Biodiversität. Die Gefahr ist, dass dabei global wichtige Funktionen wie die Kohlenstoffspeicherung und die Stabilität des Klimas vernachlässigt werden, da diese nur unzureichend monetär abgebildet werden, das heißt, es lässt sich kaum Geld damit verdienen.“

„‚Neue’, das heißt gebietsfremde, Arten können sich positiv oder negativ auf Funktionen auswirken. Sie stellen jedoch selbst eine Bedrohung für die Biodiversität dar.“

„Das Konzept der ‚Planetaren Grenzen’ beschreibt sehr anschaulich, dass unsere Lebensweise in vielen Bereichen nicht nachhaltig ist. Die Grenzen der Belastbarkeit der Erde, der sogenannte ‚safe operating space’, sind jedoch schwer zu definieren.“

Mögliche Interessenkonflikte

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Newbold, T. et. al. (2016): Has land use pushed terrestrial biodiversity beyond the planetary boundary? A global assessment. Science. DOI: 10.1126/science.aaf2201

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Mace, G. M. et al (2014): Approaches to defining a planetary boundary for biodiversity, Global Environmental Change 28, S. 289, DOI: 10.1016/j.gloenvcha.2014.07.009

Weitere Recherchequellen

Steffen, W. et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347, S. 736. DOI: 10.1126/science.1259855

Scholes, R. J., Biggs, R. (2005): A biodiversity intactness index. Nature 434, S. 45. DOI: 10.1038/nature03289