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21.02.2017

Grippe-Impfung bietet diesen Winter erneut "suboptimalen" Schutz für Risikogruppen

Nur 46,9 Prozent der Menschen zwischen 15 und 64 Jahren, die sich diesen Winter gegen Grippe haben impfen lassen, sind wirklich vor der aktuell zirkulierenden Influenza geschützt; in der Hochrisikogruppe der Menschen ab 65 Jahren wirkt der Impfstoff nur bei 23,4 Prozent. Forscher kommen deswegen in einer europaweiten Fall-Kontroll-Studie zu dem Schluss: Die Wirksamkeit des Impfstoffs gegen die saisonale Influenza ist wie in den vorherigen Wintern „suboptimal“.

Die Ergebnisse, von denen manche allerdings aufgrund zu geringer Fallzahlen nicht statistisch signifikant sind, wurden in der Fachzeitschrift „Eurosurveillance“ vom European Centre for Disease Prevention and Control publiziert.

 

Übersicht

     

  • Dr. Hedwig Roggendorf, Verantwortliche der Reise-Impfsprechstunde/ Gelbfieberimpfstelle am Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München (TUM), München
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  • Prof. Dr. Eberhard Hildt, Leiter der Abteilung Virologie, Paul-Ehrlich-Institut – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI), Langen
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Statements

Dr. Hedwig Roggendorf

Verantwortliche der Reise-Impfsprechstunde/ Gelbfieberimpfstelle am Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München (TUM), München

„Vielen Bürgern ist leider nicht bewusst, dass eine echte Virus-Grippe nicht einfach ein grippaler Infekt ist. Dies zeigte unter anderem 2013 eine repräsentative Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) [1]. Auf die Frage ‚Warum lassen Sie sich nicht jedes Jahr gegen Grippe impfen?’ antworteten 42 Prozent: ‚Ich glaube nicht, dass es eine schwere Erkrankung ist.’ Fast ebenso viele wussten auch nicht, dass sie zu einer der Risikogruppen gehören, für die eine Impfung von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlen wird, nämlich Senioren älter als 60 Jahre, Schwangere ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel, chronisch Kranke aller Altersgruppen und medizinisches Personal. 50 Prozent glaubten nicht, dass die Impfung vor einer Influenza schützt. Wissenslücken erzeugen also Impflücken.“

„Eine Influenza kann vielfältige Komplikationen haben, etwa die Schwächung des Immunsystems, was gelegentlich zu Lungenentzündung, Herzmuskelentzündung, Herzinfarkt oder Schlaganfall durch Gefäßverschluss führen kann, aber auch die Verschlimmerung von Grundleiden, zum Beispiel bei Diabetes mellitus, sowie eine postgrippale Erschöpfung. In Hinblick darauf ist eine Impfung sinnvoll, obwohl sie manchmal zwar nicht die Infektion, aber die Komplikationen einer Influenza verhindert.“

„Auch, wenn die Impf-Effektivität nur 41 Prozent für alle Altersgruppen zusammen beträgt, wie vorläufige Ergebnisse zur Wirksamkeit der saisonalen Influenza-Impfung bei ambulant behandelten Patienten in der Saison 2016/2017 in Deutschland zeigen [2], sind das bessere Voraussetzungen als ganz ohne Impfschutz zu sein. Das Robert Koch-Institut (RKI) stellt fest: ‚Selbst wenn weniger als die Hälfte der Geimpften vor einer Erkrankung mit Influenza geschützt ist, kann aufgrund der Häufigkeit von Influenza-Erkrankungen durch die Impfung eine große Zahl an Erkrankungen verhindert werden. Daher bleibt die Influenza-Impfung die beste Präventionsmaßnahme auf Bevölkerungsebene, um das Risiko von Erkrankungen zu vermindern.’“

„Florian Krammer und Peter Palese [3] arbeiten an der Herstellung eines sogenannten Universalimpfstoffs, der aus den wenig variablen Bestandteilen des Virus’ hergestellt werden soll, das heißt der Stamm-Region des Hämagglutinins und der Neuraminidase oder im M2-Protein, das sich ebenfalls in der Virusmembran befindet. Damit wäre möglicherweise das Problem des jährlich neu herzustellenden Impfstoffes, die jährliche Impfung und der oft unbefriedigende Impfschutz zu lösen.“

„Da die Influenza-Saison noch andauert und das Risiko einer Ansteckung vor allem bei Massenveranstaltungen an Karneval gegeben ist, ist eine Impfung auch zum jetzigen Zeitpunkt noch sinnvoll.“

Prof. Dr. Eberhard Hildt

Leiter der Abteilung Virologie, Paul-Ehrlich-Institut – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI), Langen

„Grundsätzlich hängt es von vielen Faktoren ab, wie gut die im Impfstoff enthaltenen Komponenten mit den zirkulierenden Stämmen übereinstimmen. Die Epidemiologie der zirkulierenden Viren spielt eine große Rolle, wie auch deren genetische Variabilität.“

„In diesem Jahr zirkulieren neben den H3N2-Viren der genetischem Subclade 3C.2.a (dazu gehört der im Impfstoff enthaltene Stamm A/Hong Kong/4801/2014) auch H3N2-Viren der neuen Subclade 3C.2.a1. In Deutschland wie auch in ganz Europa gehören etwa zwei Drittel der H3N2-Viren dieser neuen Subclade an. Diese Viren reagierten sehr gut mit dem Immunserum gegen den Stamm A/Slovenia/3188/2015, der die neue H3N2-Variante 3C.2a1 repräsentiert.“

Zur Frage, warum gerade bei Hochrisikogruppen wie Kindern und ältere Menschen der Influenza-Impfstoff weniger gut wirkt als im Durchschnitt:

„Die Immunantwort auf Impfungen und Infektionen entsteht durch eine komplexe Interaktion zwischen angeborener und erworbener Immunität, spezifischer Antikörperbildung und zellbasierter Immunantwort. Das Immunsystem von sehr jungen Kindern und alten Menschen weist Eigenschaften auf, die die Immunantwort limitieren. Die Stärke der kindlichen Immunantwort hängt unter anderem vom Alter des Kindes ab. Das kindliche Immunsystem ist von Geburt an vollständig angelegt, aber noch unreif. In den ersten sechs Monaten wird die kindliche Immunantwort außerdem von den noch zirkulierenden maternalen Antikörpern (Antikörper der Mutter, die das Kind über die Muttermilch erhält; Anm. d. Red.), welche die Wirksamkeit der Grippeimpfung einschränken. Mit zunehmender Reife des Immunsystems wird bei älteren Kindern dann auch die Immunantwort stärker. „Im Alter kommt es dann wieder zu einer sowohl qualitativen, als auch quantitativen Abnahme der Immunantwort (Immunoseneszenz).“

„Die Immunantwort wird allerdings nicht nur durch das Alter, sondern auch durch zugrundeliegende Erkrankungen oder durch Einnahme immunsupprimierender Medikamente beeinflusst. Aufgrund der Immunschwäche kann es dann zu einer eingeschränkten oder fehlenden Immunantwort nach der Impfung kommen. Eine Schwäche des Immunsystems bedeutet aber auch, dass im Fall einer Infektion (mit Influenza-viren) das Risiko eines schweren, unter Umständen tödlichen Krankheitsverlaufs zunimmt. Daher wird die Impfung gegen Influenza, trotz des eingeschränkten Schutzes, unter anderem für Personen mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten, Personen ab 60 Jahre und für Personen mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens empfohlen.“

„Bei der vorliegenden Studie ist zu bemerken, dass die Wirksamkeit bei Personen über 65 wegen der geringen Anzahl an geimpften Personen vorsichtig interpretiert werden muss. Allerdings ist aus den bereits genannten Gründen in dieser Personengruppe mit eingeschränkter Wirksamkeit der Impfung zu rechnen. Weitere Präventivmaßnahmen, wie Händehygiene und Abstand zu symptomatisch Erkrankten, sind in den vulnerablen Personengruppen empfehlenswert.“

„Die saisonale Wirksamkeit von Influenza-Impfstoffen hängt von mehreren Komponenten ab, unter anderem von der Übereinstimmung der Impfstoffe mit den zirkulierenden Viren, der Epidemiologie der zirkulierenden Stämme und deren genetischen Variabilität. Deswegen ist die Wirksamkeit von Influenza-Impfstoffen oft schwer vorhersehbar. Ein Beispiel für eine historisch schlechte Wirksamkeit wird für den H3N2-Stamm in der Saison 2014/2015 beschrieben [4]. In jener Saison zirkulierten hauptsächlich Influenza-Viren vom Subtyp H3N2. Entgegen den Vorhersagen veränderte der zirkulierende Stamm seine antigenen Eigenschaften, und stimmte nicht mehr mit der im Impfstoff enthaltenen H3N2-Komponente überein. Die Wirksamkeit des Impfstoffes lag bezüglich der H3N2-Komponente bei unter zehn Prozent. Als H3N2-Impfstamm wurde damals das Virus A/Texas/50/2012 verwendet, die zirkulierenden Viren entsprachen aber in ihrer Antigenizität dem Stamm A/Switzerland/9715293/2013.“

„Auch wenn die Impfung (über alle Altersgruppen) weniger als die Hälfte der Geimpften vor einer Erkrankung mit Influenza schützt, kann durch eine Impfung eine große Zahl an Erkrankungen verhindert werden, weil die Infektiosität und damit die Erkrankungshäufigkeit generell so hoch sind [2].“

„Nach der Impfung dauert es zehn bis 14 Tage, bis der Impfschutz vollständig aufgebaut ist. Um rechtzeitig geschützt zu sein, wird deshalb empfohlen, sich bereits vor Beginn der Grippe-Saison – in den Monaten Oktober oder November – impfen zu lassen. Allerdings kann es auch zu Beginn und im Verlauf der Grippewelle noch sinnvoll sein – abhängig vom individuellen Risiko –, eine versäumte Impfung nachzuholen. Schließlich ist nie genau vorherzusagen, wie lange eine Influenza-Welle andauern wird.“

Zur Frage, welche Bedeutung es hat, dass in manchen Subgruppen der aktuellen Untersuchung, die Ergebnisse nicht statistisch signifikant sind:

„Die fehlende Signifikanz in Subgruppen ist aufgrund der geringeren Fallzahlen nichts Außergewöhnliches. Eine statistische Signifikanz hängt im Wesentlichen von zwei Größen ab: dem vorhandenen Effekt und der Fallzahl. Um einen bestimmten Effekt mit hinreichender Sicherheit ‚finden‘ zu können, benötigt man eine Mindestzahl an Beobachtungen. In der Regel wird diese Zahl im Rahmen von Fallzahlbetrachtungen vor Beginn einer Studie berechnet. In der Regel erfolgt diese Fallzahlbetrachtung für das interessierende Gesamtkollektiv und nicht für die einzelnen Subpopulationen. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Effekte in der Gesamtpopulation ‚signifikant‘, in Subpopulationen aber ‚nicht signifikant‘ sind. Zu dem zitierten Artikel aus ‚Eurosurveillance’ ist anzumerken, dass methodische Details im Artikel selbst nur sehr knapp dargestellt werden, sodass nicht direkt ersichtlich ist, ob es eine belastbare Fallzahlplanung gab.“

„Was man außerdem im Auge behalten sollte, ist die Interpretation eines nicht signifikanten Ergebnisses: Fehlende Signifikanz alleine darf nicht in dem Sinne interpretiert werden, dass kein Effekt vorhanden ist. In diesem Zusammenhang sei auf den Artikel von Altman und Bland im ‚British Medical Journal’ verwiesen [5]: ‚Absence of evidence is not evidence of absence’.“ (zu deutsch: Das Fehlen eines Beweises ist kein Beweis für das Fehlen (eines Studienergebnisses); Anm. d. Red.). Der Artikel benennt zwar explizit randomisierte Studien; die getroffenen Aussagen bezüglich statistischer Schlussweisen gelten aber generell, das heißt auch für Fall-Kontroll-Studien, sofern sie Statistik verwenden.“

Mögliche Interessenkonflikte

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Kissling E et al. (2017): Early 2016/17 vaccine effectiveness estimates against influenza A(H3N2): I-MOVE multicentre case control studies at primary care and hospital levels in Europe. Rapid communication. Eurosurveillance. 22(7).

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2013): Einstellungen, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zu Hygiene und Infektionsschutz.

[2] Robert Koch-Institut (RKI): Vorläufige Ergebnisse zur Wirksamkeit der saisonalen Influenza-Impfung bei ambulant behandelten Patienten in der Saison 2016/2017 in Deutschland. Epidemiologisches Bulletin 06/2017.

[3] Krammer F et al. (2015): Advances in the development of influenza virus vaccines. Nat Rev Drug Discov;14(3):167-82. DOI: 10.1038/nrd4529.

[4] Skowronski DM et al. (2016): A Perfect Storm: Impact of Genomic Variation and Serial Vaccination on Low Influenza Vaccine Effectiveness During the 2014-2015 Season. Clin Infect Dis; 63(1):21-32. DOI: 10.1093/cid/ciw176.

[5] Altman DG et al. (1995): Absence of evidence is not evidence of absence. BMJ;311(7003):485.

Weitere Recherchequellen

Robert Koch-Institut (RKI): Karten der Aktivität akuter respiratorischer Erkrankungen in Deutschland.

Robert Koch-Institut (RKI): Influenza. Ratgeber, FAQ, Epidemiologie und mehr.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Häufig gestellte Fragen zur Grippe (saisonale Influenza) – auf arabisch, deutsch, englisch, französisch, russisch, türkisch.

Weltgesundheitsorganisation (WHO): WHO Consultations on the Composition of Influenza Virus Vaccines.

Flannery B et al. (2017): Interim Estimates of 2016-17 Seasonal Influenza Vaccine Effectiveness – United States, February 2017. MMWR Morb Mortal Wkly Rep;66(6):167-171. DOI: 10.15585/mmwr.mm6606a3.

Alan H et al. (2017): Improving the selection and development of influenza vaccine viruses – Report of a WHO informal consultation on improving influenza vaccine virus selection, Hong Kong SAR, China, 18-20 November 2015. Vaccine;35(8):1104-1109. DOI: 10.1016/j.vaccine.2017.01.018.

Konsortium „Integrated Monitoring of Vaccines in Europe” (I-MOVE+).